Von Santiago nach Feuerland. Erster Teil eines politischen Reiseberichts

Manchmal sind unsere Genoss*innen sind nicht nur in Göttingen unterwegs, sondern auch in anderen Ländern. Die Erfahrungen, die sie dabei sammeln, können uns unter Umständen auch als Inspiration für hiesige Auseinandersetzungen dienen. Der erste Bericht, den wir hier in mehreren Teilen veröffentlichen, beschreibt die Situation in Chile.

Am 4. September 1970 wird Salvador Allende, Vorsitzender der Unidad Popular, einem Zusammenschluss kommunistischer und sozialistischer Parteien, zum chilenischen Präsidenten gewählt. Drei Jahre später putscht – unterstützt von der CIA – das Militär. Unter der Führung Augusto Pinochets folgt eine langjährige Militärdiktatur, die erst 1990 enden soll. Jahre, die geprägt sind von Mord, Folter und Verschwinden. Eine Diktatur, die – nicht nur durch die Verfassung — bis heute wirkt. Auch aber eine Zeit, in der in Chile ein aggressiver Neoliberalismus etabliert wurde. Heute bezeichnen viele Menschen „ihr“ Land als ein Experiment des Westens, ein Ausloten des (Un)machbaren innerhalb einer marktliberalen Wirtschaftsordnung. In ganz Chile werden Malls aus dem Boden gestampft. Hinter den Kassen der gigantischen Einkaufszentren warten Studierende. Mitunter zahlen sie dafür, Einkäufe in möglichst vielen Plastiktüten unterbringen zu dürfen. Ihr Verdienst? Berechnet sich aus dem Trinkgeld, das die Kundschaft zahlt. Doch die Menschen sind widerständig. Wenige Wochen in Santiago, der Hauptstadt (beinahe die Hälfte aller Chilen*innen lebt hier) erlauben keine tiefgreifenden Analysen. Wohl aber reicht die wenige Zeit, um Eindrücke abzubilden: Von den sozialen Härten und denen, die sie zu Kämpfen machen.

No+AFP

No+AFP – no mas AFP, no more AFP: Diese kompakte Forderung ist wohl die mit Abstand präsenteste, wenn man mit dem bloßen Auge auf die Suche nach sozialen Auseinandersetzungen geht. Tausendfach gesprüht und plakatiert, auf Schildern und Transparenten bei zahlreichen Streiks oder Demonstrationen. AFP steht für Administradores de Fondo de Pensiones und beschreibt das chilenische Rentensystem, ein Relikt aus der Diktatur, das tatsächlich enormes Mobilisierungspotential besitzt. Seit 1981 ist Chile eines von wenigen Ländern, das sein Sozialversicherungssystem privatisiert hat. Wie das funktioniert? Es existieren verschiedene private Rentenfonds, die AFPs, nicht selten in der Hand transnationaler Unternehmen. Wer nun arbeitet, zahlt über 10% seines Gehalts in einen solchen Fonds, der dann die spätere Rente garantieren soll. Die Konsequenzen aber sind massive Altersarmut und ein schier undurchschaubares Netz von Schattenwirtschaft. Einerseits bilden sich riesige Finanzoligopole: Die sechs AFPs (es waren einst 20) erwirtschaften die größten verfügbaren Summen an Anlagekapital in ganz Chile und sind mit der Politik eng verstrickt. Auf der anderen Seite sprechen die Zahlen für sich: 90% aller Chilen*innen bekommen bei Preisen mitteleuropäischen Niveaus weniger als 200 € Rente. Die Hälfte lebt unter der Armutsgrenze. Gerade einmal durchschnittliche 28% des ehemaligen Lohns werden einer Frau ausgezahlt. Das neoliberale Vorzeigeprojekt treibt die Menschen an denRand der Existenz.

Cocina Communitaria

Die Ernährung kann in Chile als ein soziales Problem begriffen werden. Das zumindest tut die Cocina Communitaria und verwandelt die Problematik in ein kollektives politisches Projekt. Viele Menschen haben sehr lange Arbeitstage. Nicht selten nehmen die Wege zum und vom Arbeitsplatz oder der Universität in der Metropole mehrere Stunden in Anspruch. Die Konsequenz: Gemeinsam gekocht wird in vielen Haushalten kaum, dementsprechend riesig ist das Angebot an ungesunden Fertiggerichten. Die Getränkeregale der Supermärkte werden dominiert von Getränken, die den Eindruck erwecken, nur aus Wasser und Zucker zu bestehen. Das Konzept der europäischen „Soliküchen“ lässt sich nicht übertragen, eben weil die Zeit fehlt, wöchentlich gemeinsam zu kochen. Dennoch sind sie Inspiration für die Cocina Communitaria, die vor allem eins anders macht: Nicht die Menschen bewegen sich hin zum Essen. Nein, das Gekochte wird bis vor die Haustür geliefert. Jede Woche wird einmal gekocht. Es fallen dabei vier Schichten an: Erstens der Einkauf auf Santiagos großem Obst– und Gemüsemarkt, der Vega Central. Zweitens das Kochen selbst, stets vegan. Drittens die Auslieferung des fertigen Gerichts, natürlich mit dem Fahrrad. Viertens das Putzen der Küche, die sich (noch) in der Casa Volnitza befindet, einem sozialen Zentrum, das nach zehn Jahren leider seine Räumlichkeiten verlassen muss. Wer im Monat eine einzige dieser Schichten übernimmt, bekommt wöchentlich bis zu vier Portionen geliefert. Der Preis ist verschwindend gering. Findet in der Volnitza eine Party statt, backt die Cocina (wirklich leckere) Pizza, um ihr Tun zu refinanzieren. Die Cocina Communitaria scheint es nicht nur geschafft zu haben, eine Antwort zu geben auf dieFrage der Ernährung. Sie nutzt das Mobilisierungspotential eben dieser sozialen Frage aus, um zugleich einen Moment der Politisierung und Radikalisierung zu schaffen – am Ende ist es viel mehr als die bloße Ernährung. So ist ein großes Netzwerk entstanden, nicht ohne Zukunftsvisionen: Derzeit wird eine App programmiert, die den organisatorischen wie logistischen Aufwand reduzieren soll.

Ni una menos

Gewalt gegen Frauen in allen Facetten ihres Erscheinens gibt es überall. In Lateinamerika jedoch äußert sich das Patriarchat allzu häufig in seiner brutalsten Form. Vor wenigen Monaten wird in Argentinien eine Sechzehnjährige unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Der Fall ist alles andere als ein Einzelfall, an kaum einem anderen Ort gibt es so viele femicidos (Mord an einer Frau auf Grund ihres Frauseins) wie in den Ländern Lateinamerikas. Der Angriff auf die Sechzehnjährige ist von solcher Brutalität, dass er zum Auslöser massiver feministischer Proteste wurde: Ni una menos – nicht Eine weniger. Unter diesem Aufruf gehen Frauen seitdem auf die Straße, erst in Argentinien, später in unzähligen Städten Lateinamerikas. In Buenos Aires wurden Frauen dazu aufgerufen, ihre Arbeit vor der ersten Großdemonstration zu bestreiken, es wird schwarz getragen.

Zumindest in Santiago sind es riesige Demonstrationen ohne Redebeiträge, mit einer Vielzahl schauspielerischer Aktionen und einer Vielzahl professionell anmutender Trüppchen, die Routen und Seitenstraßen plakatieren. Es sind kämpferische Demonstrationen, klassenkämpferisch – verschwindend gering ist die Anzahl violetter Fahnen verglichen mit dem Rot Schwarz der guevaristischen Revolution.

Der zweite Teil des Berichts erscheint in der nächsten Ausgabe unserer Zeitung und befasst sich mit den sozialen Auseinandersetzungen im ländlichen Raum.

Die gesamte Demontage #7 gibt es hier zum Download.