Reflexion zu G20

Monsters of Göttingen bat uns unmittelbar nach dem G20-Gipfel um ein Interview. Leider wurde dies — offenbar aus redaktionellen Gründen — nicht veröffentlicht. Wir holen das nun nach. Zwar ist das Interview nicht mehr tagesaktuell, aber die Analyse bleibt grundsätzlich sinnvoll. Im Folgenden könnt ihr unsere Positionen zu den G20-Protesten nachlesen.

Warum habt ihr lokal nicht zum G20-Gipfel nach Hamburg mobilisiert? Inwiefern fand eine gemeinsame Debatte und Mobilisierung mit der IL statt?

Wir als Ortsgruppe der IL konzentrieren uns von unserem Anspruch her auf die lokale Verankerung und die Durchsetzungsfähigkeit vor Ort und haben daher hauptsächlich in den Zusammenhängen mobilisiert, in denen und mit denen wir aktiv sind. Mit unserer Mutterorganisierung, also der IL, gab es dementsprechend Absprachen und Diskussionen auf den bundesweiten Gesamttreffen. Wir waren ferner Teil des lokalen Mobilisierungsbündnisses zu G20.

Der G20-Gipfel und eine radikale Kritik war in Göttingen in den Wochen vor dem 7./8. Juli kaum zu vernehmen. War es schwer in Göttingen für die Gipfelproteste zu mobilisieren?

Das sehen wir ein wenig anders. Plakate und Graffities, die auf das Thema aufmerksam gemacht haben, waren überall in der Stadt zu sehen; auch in den sozialen Medien wurde aus Göttingen mobilisiert. Im Rahmen des gemeinsamen Mobilisierungsbündnis gab es zudem über Veranstaltungen eine inhaltliche Auseinandersetzung zu Themen, die in Verbindung mit dem G20-Gipfel stehen – auch in Veranstaltungen von uns. So hat unser Arbeitskreis (AK) Soziale Kämpfe in einer Veranstaltungsreihe gegenwärtige soziale Kämpfe (auch) im globalen Rahmen thematisiert, die sich in ihren Zielen und Forderungen auch gegen die herrschende Politik der G20-Staaten richten.

Welche Protestaktionen gegen den Gipfel in Hamburg waren aus eurer Sicht die politisch wichtigsten?

Der Protest gegen den G20– Gipfel lebte von seiner Vielfältigkeit, wobei die gemeinsame Ablehnung der herrschenden neoliberalen Politik das Verbindende war. Dabei möchten wir drei Aspekte besonders betonen.
Erstens die inhaltliche Kritik: Durch verschiedenste Aufrufe, Debattenbeiträge und im Rahmen des Alternativgipfels wurde die Kritik am Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form deutlich gemacht. Der Alternativgipfel wurde von mehreren tausend Leuten besucht, medial aber kaum aufgenommen.
Zweitens die breiten Protestformen, die jeder und jedem die Möglichkeit gegeben haben, sich zu beteiligen. Als herausragendes Beispiel lässt sich die Demo „grenzenlose Solidarität statt G20“ mit knapp 80.000 Teilnehmer*innen nennen. Erwähnenswert ist auch die Hafenblockade „Shut down the Logistics of Capital“. Mit dieser Aktion hat das „ums ganze!“-Bündnis unseres Erachtens die ökonomische Kritik an globalisierten Ausbeutungsstrukturen um einen wichtigen Aspekt erweitert, auch wenn es dabei nicht gelungen ist, jene zu organisieren, die die Logistik des Kapitals am Leben halten und stoppen könnten: Die Hafenarbeiter*innen.
Drittens die konkrete Störung des Gipfelablaufs. Im Rahmen der „Block G20“-Aktionen ist sichtbar geworden, dass eine solche absurde Inszenierung der Herrschenden nicht reibungsfrei ablaufen wird. Es blieb nicht das Bild von Paradefahrten der Staatschefs durch menschenleer gefegte Straßen. Stattdessen haben Zehntausende trotz massivster Polizeigewalt bis teilweise direkt vor den Messehallen und der Elbphilharmonie blockiert, viele Delegationen kamen verspätet an und mussten erhebliche Umwege nehmen.

Die Polizei konnte Handlungsmacht weit über das gewohnte Maß hin für sich beanspruchen. Wie habt ihr das polizeiliche Auftreten wahrgenommen? Inwiefern ist es richtig von einer neuen Dimension von Polizeigewalt zu sprechen? Und müsste die Linke nicht auch stärker in den Blick nehmen, dass die Polizei immer stärker als eigenständige politische Akteurin auftritt?

Von „Handlungsmacht“ zu sprechen, ist unserer Meinung nach verharmlosend für das was in Hamburg von Seiten der Polizei ausgeübt wurde. In Hamburg wurde der polizeistaatliche Ausnahmezustand geprobt. Dieser Ausnahmezustand ging von Einschränkungen der Versammlungsrechte, über die gewaltsame Räumung der gerichtlich genehmigten Camps, den Angriff auf die „Welcome to Hell“-Demo, bis hin zum Einsatz von Spezialeinheiten inklusive Schießbefehl. Das gesamte Wochenende über gab es massive Angriffe auf Demonstrant*innen, noch zwei Wochen im Anschluss lagen Menschen im Koma.
So erschreckend diese Ereignisse für all jene sind, die über ein humanistisches und demokratisches Grundverständnis verfügen, so wenig können wir leider von einer neuen Dimension sprechen. Vielmehr müssen wir sie einordnen in eine Entwicklung der neoliberalen Staaten insgesamt, die sich nicht erst seit dem Gipfelwochenende in einer Legitimationskrise befinden und nun die Flucht nach vorn antreten. Die permanente Krise des Kapitalismus wird mit allen Mitteln gegen jene verteidigt, die unter ihr leiden. Das kapitalistische Prinzip, alle Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders ökonomisch verwertbar zu machen, wird im Neoliberalismus auf die Spitze getrieben. Es treibt nicht nur die Konkurrenz zwischen Unternehmen, sondern zwischen allen Menschen ins Maßlose. Am Härtesten trifft dies diejenigen, die ökonomisch gesprochen am unteren Ende der Stufenleiter stehen. Jene, die gezwungen sind ihre Arbeitskraft zum Erhalt ihrer physischen und sozialen Existenz zu verkaufen und dies unter immer mieseren Bedingungen tun müssen – weil sie für immer weniger Geld in kürzerer Zeit mehr produzieren müssen, damit ihr „Arbeitgeber“ seine Profite maximiert und somit „konkurrenzfähig“ bleibt. Die Berge an Waren, die dabei hergestellt und auf die Märkte geworfen werden, können sich zugleich immer weniger Menschen leisten – weil ihr Einkommen nicht ausreicht oder sie über keines mehr verfügen, weil ihre Arbeitskraft in diesem Hamsterrennen überflüssig geworden ist. Der Staat befördert diesen Prozess: der Abbau aller sozial– und arbeitsrechtlichen Standards, die Schleifung von Tarifverträgen, die Normalisierung von Leih– und Zeitarbeit gehen damit einher. Die neoliberale Lüge, welche uns diese Entwicklungen der letzten 40 Jahre als Wohltat für alle verkaufen sollte, bricht mittlerweile auch in der sogenannten „ersten Welt“ in sich zusammen. Zu offensichtlich ist das soziale und ökologische Elend, zu groß die Schere von Arm und Reich, die der gegenwärtige Kapitalismus in allen Ecken der Erde produziert.
Die massiven Verletzungen demokratischer Grundrechte und die enthemmten Gewaltexzesse der Polizei während des G20-Gipfels in Hamburg sind Ausdruck eines immer autoritärer agierenden neoliberalen Staates, der sich gegen alle richtet, die gegen das hier skizzierte Elend aufbegehren. Im gewissen Sinne hat sich Deutschland damit den Standards anderer Staaten der sogenannten „freien Welt“ angepasst. In Frankreich gilt seit fast zwei Jahren der Ausnahmezustand. Ausgerufen im Kampf gegen islamistischen Terror, diente er der damaligen Hollande-Regierung zugleich als nützliches Mittel, um ihre Arbeitsmarktreformen auf der Straße gegen die Gewerkschaften durchzusetzen. Die neue Regierung unter Macron wird dies weiter fortführen. In den USA sind Mittel der militärischen Aufstandsbekämpfung seit Jahrzehnten Normalität. Die Bundesregierung hat Ende Mai diesen Jahres das Strafmaß bei sogenannten „Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte“ massiv verschärft (als „Widerstandshandlung“ kann die Polizei dabei noch das leichteste Anrempeln interpretieren) und nur einen Monat später die polizeilichen Zugriffsmöglichkeiten in die informationelle Selbstbestimmung der Menschen mit dem Bundestrojaner ausgeweitet. All das sind Entwicklungen, die wir hier einordnen müssen.

Die mediale und polizeiliche Kampagne zielt ja nun vor allem auf die Gewaltfrage. Inwiefern muss die Linke dazu Stellung beziehen?

Dass die herrschende Politik, die Polizei und das bürgerliche Feuilleton nun öffentlich nur entlang der Form, sprich angeblich legitimem, da friedlichem, und illegitimem, da vermeintlich oder tatsächlich gewaltsamem Protest, diskutieren, sollte nicht überraschen. Es soll die inhaltliche Kritik des Protests – die freilich sehr heterogen ist – vergessen machen. Vor allem soll es aber über die Gewalt hinwegtäuschen, die alltäglich von diesem Staat ausgeübt wird. Und damit einhergehend über die inhaltliche Farce, die der G20-Gipfel selbst nach Maßstäben der herrschenden Politik darstellte. Ein allgemein gehaltenes Bekenntnis zum Freihandel, also der Fortsetzung genau jener ökonomischen Umverteilung von unten nach oben, wie sie bisher eh an der Tagesordnung ist. Ein Bekenntnis zu den Klimaschutzverträgen von Paris, von denen sich im selben Atemzug zwei G20-Staaten distanzierten und die schon bei ihrem Beschluss für die Tonne waren – denn die kapitalistische Notwendigkeit, die Produktivität der Industriemaschinerie immer weiter auszudehnen, sprich immer mehr zu produzieren, um in der globalen Konkurrenz zu bestehen, vergrößert auch den Ressourcenhunger und den Ausstoß von CO2. Der Versuch einer ressourcenschonenden Produktion unter kapitalistischen Bedingungen bleibt eine Illusion, die mit jedem neuen Bericht zur Weltklimalage als solche entlarvt wird.
Unter diesen Gesichtspunkten hat es hat schon etwas gleichermaßen Arrogantes wie Verzweifeltes, wenn sich Merkel und Co hinstellen und behaupten, dass es doch demokratisch sei, wenn die 20 mächtigsten Staaten der Welt gemeinsam mit dem IWF und der Weltbank „auf Augenhöhe“ die Interessen ihrer nationalen Kapitale abstimmen, während über Zwanzigtausend Polizist*innen trotz aller Gewalt daran scheitern, vor den Toren der Messehalle und in der Hamburger Innenstadt eine Demonstrationsverbotszone durchzusetzen. Denn dies ist die andere Seite dessen, was in Hamburg passiert ist. Trotz und vielleicht auch wegen der massiven Repression haben mehr als Hunderttausend Menschen gegen die Politik der G20 demonstriert.

Wie wichtig war der G20-Gipfel für eure politische Analyse von Interventionsmöglickeiten?

Die Bedingungen, unter denen wir politische und soziale Kämpfe für ein besseres Leben führen, werden härter. Gleichzeitig hat eine große Zahl an Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zumindest für diese Woche gezeigt, dass sie sich mit einem same procedure as everyday nicht abfinden wollen, dies ist die große Chance, aber auch Herausforderung der radikalen Linken. In Hamburg waren nicht nur politische Aktivist*innen und „Berufsdemonstranten“ von überall her, wie man es uns weismachen will. Es waren genauso die sogenannten „normalen“ Menschen, die da protestierten – auch wenn man danach fragen sollte, wo da die Grenze verläuft. Es waren auch diejenigen, die sich die Mieten in den Vierteln nicht mehr leisten können, in denen sie aufgewachsen sind. Diejenigen, die zwischen Leiharbeit und Hartz IV strugglen, denen Politik und Bürgertum entgegenwerfen, dass sie an ihrer Misere selber Schuld wären. Und auch diejenigen, die in Billstedt und St. Pauli wegen ihrer schwarzen Haare fast jeden Tag in Polizeikontrollen geraten.
Ihre Motivationen waren und sind dabei so verschieden wie ihre Hintergründe. Es ist die Hoffnung, mit dem Protest eine tatsächliche Veränderung der eigenen Lebensbedingungen herbeizuführen. Es war aber für viele auch die Möglichkeit, der eigenen Wut ein Ventil zu verschaffen. Endlich einmal nicht mehr Opfer zu sein, sondern es jenen heim zu zahlen, die einen jeden Tag drangsalieren. Auch wenn dies an vielen Stellen – organisiert oder nicht – in den Drang umschlug, einfach irgendwas kaputt zu machen und dabei viele getroffen wurden, die unbeteiligt waren oder unter denselben Zumutungen des kapitalistischen Alltags leiden.
Nicht nur deshalb wäre es falsch in naive Revolutionsromantik zu verfallen. Das Hamsterrad des Kapitalismus dreht sich auch nach G20 weiter. Der Erfolg der Proteste wird sich nun jedoch daran bemessen, inwieweit es uns gelingt, die Wut und die Hoffnung aus Hamburg in die alltäglichen Kämpfe gegen die kapitalistischen Verwerfungen zu übertragen. In diesem Kontext gilt es auch, einen neuen Begriff von Militanz zu entwickeln, der sich nicht auf die gewaltsame Konfrontation mit der Staatsgewalt auf der Straße beschränkt, sondern eine alltagsweltliche Bedeutung erfährt: Es geht um die militante Aneignung des eigenen Lebens, um die Erweiterung der je eigenen subjektiven Handlungsfähigkeit in kollektiven Aktionen. Es geht um eine militante Praxis vor Ort (etwa im Betrieb, im Stadtviertel, im Jobcenter oder in Bildungseinrichtungen), in der eine solidarische Alternative lebbar ist, welche von den gegebenen Handlungszwängen abweicht und neue Perspektiven eröffnet.