„Mit uns keinen Schlussstrich“:
Neuer sächsischer NSU-Ausschuss kommt

Die Fraktionen DIE LINKE und Grüne haben im Sächsischen Landtag einen neuen Untersuchungsausschuss zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) beantragt. Die nötige Vorarbeit ist bereits erledigt. Gestern wurde der zehnseitige Einsetzungsbeschluss abgegeben, Behandlung und Abstimmung im Landtagsplenum sollen in Kürze folgen. Im Mittelpunkt des Papiers stehen Fragen nach Fehlern sächsischer Behörden bei der Suche nach dem im Januar 1998 untergetauchten „Trio“ Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Festgestellt werden soll, ob eine Mitverantwortung am Entstehen der rechtsterroristischen Gruppe vorliegt, die bis November 2011 unentdeckt geblieben war und sich bis dahin vermutlich die längste Zeit in Chemnitz und Zwickau versteckt gehalten hatte.

Neuer Ausschuss soll Antworten einfordern

„Eigentlich muss man die Frage anders stellen“, sagte die LINKEN-Abgeordnete Kerstin Köditz heute bei einer Pressekonferenz in Dresden. „Ich frage mich, warum sächsische Behörden wichtige Schritte unterlassen haben, um die Untergetauchten zu finden.“ Köditz war Obfrau ihrer Fraktion im ersten sächsischen Untersuchungsausschuss, der von März 2012 bis Juni 2014 zum NSU-Komplex ermittelte. Seitdem hält sie die „Behauptung für widerlegt, dass sächsische Behörden nichts wussten“. Vielmehr hätten noch im Jahr 1998 präzise Informationen vorgelegen, die auf einen Aufenthalt in Chemnitz hindeuteten. Der Ursprung dieser Hinweise sei aber unklar und auch, warum man sie nicht weiter verfolgt hat. „Antworten auf all das werden wir jetzt einfordern“, so Köditz. „Mit uns wird es keinen Schlussstrich unter die Aufklärung geben.“

Das ist auch die Überzeugung von Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und Landtagsneuling. Die Ergebnisse des früheren Ausschusses nennt er „Aufgabe und Verpflichtung“. Geklärt werden müsse vor allem, „wie es dem NSU gelungen ist, gerade Sachsen zu einem sicheren Rückzugs- und Ruheraum zu machen.“ Um dem nachzugehen, wird der neue Ausschuss einen größeren Zeitraum überblicken als der alte: In den Blick kommen neonazistische Strukturen seit dem Jahr 1990 zum einen und Reaktionen hiesiger Behörden zum anderen, und zwar auch nach dem Auffliegen des NSU. Infrage steht etwa, ob bei den anschließenden Ermittlungen alles glatt lief. „Wir wissen zum Beispiel nicht, wie es noch am 4. November 2011 so schnell gelang, Beate Zschäpes Handynummer zu ermitteln“, fügte Köditz an. „Und auch nicht, wer und warum sie danach siebzehn Mal angeklingelt hat.“

Hoffen auf Zusammenarbeit

Eine Verschwörung sehen die beiden Abgeordneten aber nicht am Werk. Unisono erklärten sie, es gehe um eine möglichst präzise Rekonstruktion des Geschehens, „um für Klarheit zu sorgen“, eine im NSU-Komplex eher flüchtige Größe. Auch die oft vernachlässigte Opferperspektive solle stärker zur Geltung kommen. Ob die Ausschussarbeit dafür hinreichend produktiv sein wird, ist jedoch offen. Denn mittlerweile ist die demokratische Opposition geschrumpft und die SPD zum Juniorpartner der unionsgeführten Landesregierung aufgestiegen. Von dort hieß es erst vor Kurzem, dass kein Aufklärungsbedarf mehr bestünde. Doch noch in der vergangenen Wahlperiode hatten die SozialdemokratInnen den ersten NSU-Ausschuss mitgetragen und sich zum Schluss auch dazu bekannt, bald einen neuen einzusetzen. Köditz und Lippmann gehen daher auch von Unterstützungsbereitschaft aus. Für die anstehende Einsetzung des Ausschusses sind die Stimmen der links-grünen Opposition erst einmal ausreichend.

„Nach anfänglichen Problemen gab es im alten Ausschuss sowieso eine ganz gute Zusammenarbeit“, erklärte Köditz auf Nachfrage. Für eine strukturierte Beweisaufnahme ist das nur förderlich. Weil an die gerade noch nicht zu denken ist, halten sich beide PolitikerInnen aber mit Wünschen zurück, welche ZeugInnen sie heranholen wollen. Als wahrscheinlich gilt in Dresden beispielsweise die erneute Einvernahme von BeamtInnen des LKA Berlin, die Anfang der 2000er Jahre sächsische Neonazis, teils auch solche aus dem NSU-Umfeld, als „Vertrauenspersonen“ angeworben hatten und deren widersprüchliche Angaben vor dem Ausschuss selbst konservative Abgeordnete in Rage versetzten. „Dass dort von Strafanzeigen wegen Falschaussage abgesehen wurde, hat sicher damit zu tun, dass wir diesen Beamten weitere Fragen stellen wollen“, ließ Köditz blicken.

Erste Befragungen „hoffentlich vor der Sommerpause“

Auch V-Mann-Führer des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) könnten Interessantes beitragen, setzte sie nach. Dass der frühere brandenburgische V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath gehört werden wird, der heute Präsident des LfV ist, gilt als ausgemacht. Meyer-Plath hatte die Quelle “Piatto” (Carsten Szczepanski) geführt, die im Sommer 1998 dem Trio ganz nahe kam und über die geplante Beschaffung von Waffen berichten konnte. Der eigentliche Auftrag der Quelle ist bislang ungeklärt.

Doch zunächst sind formale Fragen zu klären. Noch nicht einmal klar ist, welche voraussichtlich 14 Abgeordneten dem neuen Ausschuss angehören werden. Köditz und Lippmann sind freilich gesetzt, der Vorsitz wird unabwendbar der CDU zufallen. Sollten alle Personalfragen einvernehmlich gelöst werden, könnte sich der Ausschuss im Mai konstituieren. Die ersten ZeugInnen würden dann „hoffentlich noch vor der Sommerpause“ befragt werden, so Köditz. Sie und Lippmann wünschen sich dafür viel Publikum. Sitzungen, in denen ZeugInnen befragt werden, sollen so weit wie möglich öffentlich bleiben.

Sorge um Verbleib wichtiger Akten

Wie unterdessen von Verwaltungsseite bekannt wurde, hat das neue Gremium ein erstes Problem, bevor es überhaupt gestartet ist: Ungewiss ist nämlich, ob auf alle Akten zugegriffen werden kann, die bislang zur Verfügung standen. Als letzten Akt hatte der frühere Ausschuss beschlossen, beigezogene Dokumente eine Weile aufzubewahren, um die künftige Aufklärung zu erleichtern. Die festgelegte Frist verstreicht aber Ende dieses Monats, das weitere Vorgehen ist unklar. Über naheliegende Sorgen ist das Innenministerium informiert, hat sich dem Vernehmen nach aber noch nicht geäußert.

Weitgehend unbemerkt ist bereits Ende des vergangenen Jahres das sogenannte „Löschmoratorium“ ausgelaufen. Der Erlass des Innenministeriums besagte, dass Altakten von Polizei und LfV, die den Bereich „Rechtsextremismus“ berühren, von der regulären Vernichtung auszunehmen sind. Wie groß der betroffene Gesamtbestand ist, kann bisher niemand sagen – und auch nicht, ob sich darunter weitere NSU-relevante Unterlagen befinden. Das Moratorium war Mitte 2012 verfügt worden, nachdem auch in Sachsen Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Geheimdienstakten aufgefallen waren: Das LfV hat seine Löschpraxis auch noch fortgesetzt, nachdem der erste sächsische Untersuchungsausschuss seine Arbeit bereits aufgenommen hatte.



Den Artikel veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von Ingo Weidler.