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Herzinfakt oder Kreislauftropfen ...

April 2007 | BergsteigerInnen

Ein Reisebericht über die Gipfelproteste in Berlin 1988, Köln 1999, Gleneagles 2005 mit Aussicht auf Heiligendamm 2007. Auf der Basis einer AG zu den vergangenen Gipfeln. Material: nach Lust und Laune ausgewählte Auswertungspapiere, Materialsammlungen und Dokumentationen.

Berlin '88:

DDR und BRD, Helmut Kohl und Erich Honnecker sind die kaum angefochtenen Herrscher, im Westen gilt seit 1985 das Vermummungsverbot, die Autonomen sind durch "Terror aus dem schwarzen Block"1 eine wahrnehmbare politische Größe und auch sonst gibt es einiges an Bewegung. Hunderte Solidaritätskommitees, K-Gruppen, Internationalismus-Büros und die GRÜNEN fahren zum Gipfelhopping nach Berlin, wo sich der IWF trifft. "IWF - Mördertreff" ist der Slogan, an dem man in der von Protesten vollgestopften Stadt nicht vorbei kommt.DDR und BRD, Helmut Kohl und Erich Honnecker sind die kaum angefochtenen Herrscher, im Westen gilt seit 1985 das Vermummungsverbot, die Autonomen sind durch "Terror aus dem schwarzen Block"1 eine wahrnehmbare politische Größe und auch sonst gibt es einiges an Bewegung. Hunderte Solidaritätskommitees, K-Gruppen, Internationalismus-Büros und die GRÜNEN fahren zum Gipfelhopping nach Berlin, wo sich der IWF trifft. "IWF - Mördertreff" ist der Slogan, an dem man in der von Protesten vollgestopften Stadt nicht vorbei kommt.

Aufhänger der Proteste sind aus der Retrospektive die großen Zusammenhänge: "Weltweit führen Kapitalismus, Rassismus und das Patriarchat zu elenden Lebensbedingungen für die Ausgebeuteten Massen. Die Schuldenfalle im Trikont lässt ganze Landstriche verhungern." Das Thema Biomacht verbindet die Kämpfe: Bevölkerungspolitik wird als Verbindung von Sexismus, Rassismus und Kapitalismus analysiert, Zwangssterilisierungen dort und Familienpolitik hier stellt in diesem Sinne sicher, daß die Produktionsbedingungen von Kapital und Herrschaft überall stabil bleiben. Dazu ist Antisexismus in der autonomen Szene ein ganz großes Thema - Frauenplena spalten sich ab, Mackerverhalten wird praktisch angegriffen. Die ökologische Frage wird strömungsübergreifend als existenzielle Herausforderung begriffen.

Eine breit getragene Forderung ist die Schuldenstreichung für die ärmsten Länder der Erde. Auch wenn allen klar ist, daß die Verwertungsmaschine innert weniger Jahre die Verhältnisse wieder herstellen würde, bleibt doch die Hoffnung, die Lebensbedingungen der Ärmsten zumindest erträglicher zu machen. Daß sich aus internationaler Vernetzung von Befreiungskämpfen eine Alternative jenseits des Kapitalismus entwickeln lässt, ist vor der "Wende" 1989 selbst für Sozialdemokrat_innen eine diskussionswürdige Perspektive. "Ins Herz der Bestie" soll der Gipfelprotest die Kämpfe tragen und wenn's gut machen wir Revolution.

Alles in allem scheint es von heute aus gesehen so, als ob eine recht integrierte Sichtweise auf der Basis der "Triple Opression"2 Themenschwerpunkte, Forderungen, Kämpfe und Perspektiven recht kohärent verbunden hat, und das nicht selten auch durch die verschiedenen Spektren hindurch.

Für Abenteuerurlauber_innen war Berlin '88 von hohem Freizeitwert. Neben einer Unzahl von Demos mit verschiedenen Fortbewegungsmitteln (z.B. mit dem Taxi oder dem Fahrrad) konnte vor allem das abendliche "Trommelfeuer" mit Musik, Tanz und Feuershow auf dem Breitscheidplatz begeistern. Der/die interessierte Tourie konnte an vielen Orten die traditionsreichen Berliner Rituale zur Umgestaltung des städtischen Lebensraumes mittels Feuer und einfacher Gewalt bestaunen, wobei die Vermittelbarkeit solcher Aktionsformen 1988 wohl stärker gegeben war als heute. Körperliche Angriffe auf zufällig ausgewählte IWF-Repräsent_innen scheinen von heute aus gesehen zweifelhaft. Für die eher intellektuellen Urlauber_innen wurde auf dem Gegenkongress und dem "Permanent Peoples Tribunal" tagelang diskutiert. Sehr ergiebig scheint das nicht gewesen zu sein, auf jeden Fall ist uns kein Reisebericht über diesen Teil bekannt. Sehr positiv schein aus heutiger Sicht, daß viele Aktionen - z.B. gegen den Bekleidungsgersteller Adler oder gegen die Pharmafirma Merck - in langfristige Kampagnen eingebunden und dadurch sehr gut inhaltlich untersetzt waren. Viele der zahlreichen Straßentheater-Aktionen schienen der Urlaubs-AG dagegen sehr undifferenziert oder unverständlich.

Köln '99:

Die DDR ist weg und vom Kapitalismus will kaum jemand mehr reden. Antirassismus ist das einzige große Thema, daß über die Spektren hinweg Bedeutung hat. Der Schwerpunkt liegt auf der Analyse von rassistischen Bedeutungszuweisungen und auf Migration, die breit getragene Forderung heißt: "Bleiberecht für alle". Ansonsten stehen die Themen recht unvermittelt nebeneinander. Globale Armut und Schuldenerlass bei Kirchens und NGOs, hier und da ein bisschen Ökologie, bei der radikalen Linken Überwachung und Repression. Die Weltrevolution spielt nur am Rande eine Rolle, wobei an eine wirklich revolutionäre Perspektive wohl kaum jemand noch glaubt.

Wer 1999 nach Köln fährt, muss sich genau überlegen, welches Programm er in Anspruch nimmt: Kongress und viele Veranstaltungen vom Antoniterkirchenplenum, ein eher aktionsorientiertes Angebot von linksradikalen Bündnis oder die Menschenkette der Erlassjahrkampagne. Als die Großdemo ohne nenneswerte Gegenwehr von der Polizei gespalten wird, ist auch symbolisch klar, daß die Bewegung nur noch wenig gemeinsam hat. Spätestens als die GRÜNEN ein von Flüchtlingen besetztes Büro räumen lassen und dabei in Kauf nehmen, daß Illegalisierte geschnappt werden, ist die Spaltung komplett. Der Gegenkongress scheint eine ABM für Bewegungsintellektuelle gewesen zu sein, auf jeden Fall schweigen die Auswerungspapiere zu seinen Ergebnissen. Allein einige kleine und kreative Aktionen wie eine nette Kommunikationsguerilla scheinen uns positive Beispiele von Köln 1999.

Glenneagles 2005:

War 1999 die Kohärenz der Forderungen angeknackst, so konnten wir 2005 kaum noch eine Ausmachen. Lose vernetzt liegen verschiedene Themen wie Klimawandel und Überwachung nebeneinander. Die "großen Fragen" nach Kapitalismus, Rassismus und Sexismus werden klein bearbeitet: Arbeitskritik, Migration und Hierarchien sind die brennenden Themen von Workshops und Flugblättern. Popstars wie Bono und Bob Geldof beantworten die K-Frage auf ihre Weise und laden zum Solikonzert für verhungernde Trikontbewohner unter dem Motto "Make Poverty History"3. Die radikale Linke kontert mit "Make Property History"4, wird aber kaum gehört.

Was Aktionen angeht, wird deutlich, daß eine Massendemo ohne Massen eher peinlich ist. Schön dagegen die Rebel Clowns Army, die kreativ und bunt die Absurdität der Verhältnisse auf den Punkt bringt.

Zusammenfassend können wir aus der Rückschau festhalten:

Immer weniger Leute protestieren auf den Gipfelevents zunehmend isolierte Themen, ohne daß es eine inhaltliche Klammer gibt. Die Spektren der Gipfelgegner_innen differenzieren sich zunehmen aus. Selbst der Grundkonsens, daß man gegen die G8 oder den IWF demonstriert, wird von Bono "Pop gegen Armut" Vox und diversen NGOs nicht mehr geteilt.

Der Gegengipfel - und das scheint für alle drei ausgewählten Gipfel zu gelten - ist mehr ein Event für seine Teilnehmer_innen als eine politisch wirksame Manifestation.

Den politischen Erfolg vergangener Kampagnen zu bewerten ist schwierig und vielleicht vermessen, aber es scheint, als ob die Proteste da am stärksten waren, wo sie inhaltlich in laufende Kampagnen eingebunden waren und wo verschiedene Teilbereiche einen Bezug zu anderen Kämpfen und größeren Themen hergestellt haben.

Das bedeutet für die Proteste 2007 in Heiligendamm:

  • Der Rahmen für die Proteste muss eine kontinuierliche politische Praxis und eine Einbindung in bestehende Kämpfe sein
  • Ziel muss es sein, über Grenzen hinweg emanzipatorische Inhalte zu vermitteln
  • Dazu muss die Bündnisfrage eingehend diskutiert werden, damit nicht am Ende die linksradikalen Gruppen auf der Straße die Fresse voll kriegen und die NGOs die Schlagzeilen bestimmen
  • Neben breiten "irgendwie dagegen"- Aktionen muss es eigenständige Aktionen kleinerer Gruppen mit eigenen Inhalten geben, die auch sichtbar werden müssen5
  • Der Schwund an Demonstrant_innen lässt sich evtl. durch ungewöhnliche Bündnispartner_innen aufhalten6
  • Inhalt und Aktion müssen verbunden gedacht werden. Der Widerstand in Heiligendamm sollte in Kontinutität zu alltäglichen Widerstand und kontinuierlichen Diskussionen stehen. Nur so kann überzeugend vermittelt werden, was das Anliegen der Proteste ist
  • Zur erfolgreichen Vermittlung von Inhalten sind kleine und lokale Aktionen im Vorfeld des Gipfels angezeigt. Im Idealfall sehen Menschen im Fernsehen einen Bericht über die Gipfelproteste und assoziieren sofort damit: "Ach ja, die sind doch gegen ....", weil gegen der Zusammenhang schon im Vorfeld des Gipfels klar war
  • zur erfolgreichen Vermittlung gehört, daß die Reste linker Medienlandschaft genauso erreicht werden müssen wie die überregionalen und regionalen Massenmedien
  • die Proteste sollten auf die dynamischen Aktionsformen wie wir sie bei der Clowns Army, aber auch bei Direct-Action-Zusammenhängen sehen setzen
  • ob ein Gegengipfel überhaupt sinnvoll ist, erscheint uns aus der Auswertung vergangener Gipfel sehr fragwürdig. Gerade wenn er den Aktivitäten auf der Straße die Teilnehmer_innen streitig macht, sind wir sehr skeptisch. Alternative wäre eine selbstorganisierte Konferenz zur Vernetzung der verschiedenen politischen Spektren und Kämpfe. Aber der Zug ist für 2007 wohl abgefahren.



  1. So ein Spiegel-Titel
  2. Kapitalismus, Rassismus, Sexismus als von vornherein unabhängige Herrschaftsverhältnisse, die sich gegenseitig beeinflussen
  3. Wörtlich: "Macht Armut Geschichte", sinngemäß Armut auf dem Müllhaufen der Geschichte abladen
  4. Eben dies mit Eigentum
  5. Das hat direkte Konsequenzen vor allem für die Pressearbeit.
  6. Wir wollen damit keine Öffnung nach Rechts propagieren, sondern denken eher in Richtung Sozialabbau-Proteste, lokale Kulturintiativen, etc.
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