headergrafik 1headergrafik 2headergrafik 3
 

Wenn einem aber nichts Anderes übrig bleibt...

Blockade der Lesung von de Maiziere

Gemeinsam mit weiteren Kriegsgegner*Innen haben wir am 21.10.2019 die Lesung von Thomas de Maizière in Göttingen verhindert. Damit wollten wir auf den Angriffskrieg des NATO-Staates Türkei in Nordsyrien und die Rolle der deutschen Politik, aufmerksam machen. De Maizière ist als ehemaliger Verteidigungsminister mitverantwortlich für massive Waffenexporte an die Türkei, ein Land, in dem die kurdische Minderheit seit langem militärisch unterdrückt wird.
Seitdem hetzen Parteipolitiker und rechte Presse gegen die Aktion. CSU-Generalsekretär Markus Blume verglich sie mit Bücherverbrennungen im deutschen Faschismus. Gewagt von einer Partei, in der etliche Nazis Karriere bis in höchste Ämter machen konnten. Der Veranstalter Johannes-Peter Herberhold gab im NDR-Interview eine Mischung aus Orwell und Verfassungsschutz zum Besten. Erst bezeichnete er unseren Protest gegen Krieg als „Militäraktion“. Dann stellte er ihn in eine Reihe mit den faschistischen Morden von Halle und Kassel. Frieden ist Krieg. Blockade ist Mord. Links ist Rechts. So weit so falsch.

Über was wird sich eigentlich aufgeregt?

Ja, wir haben Thomas de Maizière für zwei Stunden verwehrt aus seinem Buch „Regieren“ vorzulesen. Als „Spitzenpolitiker“ konnte er sich dazu in den Tagen nach unserer Aktion in den Medien und im Bundestag auslassen. Der Skandal: Einer, der immer Gehör findet, fand es einmal nicht.
Empört ist vor allem eine Gruppe von Berufspolitiker*Innen und rechten Pressevertreter*Innen, die es gewohnt sind jeden Tag ihre Meinung über diverse Kanäle zu verbreiten. Menschen, die jede Woche Pressekonferenzen und Interviews geben, in Talkshows und Parlamenten auftreten, Zeitungen herausgeben oder schreckliche Bücher verlegt bekommen. Für sie erscheint selbst die kürzeste Einschränkung dieser Privilegien als Provokation.
Wo waren diese Verteidiger der Meinungsfreiheit, als Innenminister de Maizière die Symbole kurdischer Organisationen verbieten ließ? Wo war Bücherfreund Markus Blume, als der kurdische Mezopotamien-Verlag verboten wurde? Zur Verteidigung wessen Meinungsfreiheit schwingen sich die Kolleg*Innen und Hofschreiber*Innen de Maizières eigentlich auf?
Es ist die Freiheit ihrer Klasse uns zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Meinung zu sagen. Ihre Freiheit, in einem Dutzend Zeitungen, in Fernsehen, Radio, Internet und Bundestag, „Gewalt!“ zu schreien, wenn die Kritik von unten größer wird, als leiser Widerspruch oder die Faust in der Tasche.
Wenn aber eine Redepause für einen Politiker Gewalt ist, was wird uns Normalsterblichen dann angetan? Schließlich ist die Erfahrung nicht reden zu dürfen und nicht gehört zu werden, für die große Mehrheit schlicht Alltag. Es ist die Realität einer Gesellschaft, in der eine Verwaltungselite unter „Meinungsfreiheit“ ihr Monopol auf Machtausübung versteht. Eine Realität, die nicht zwei Stunden dauert, sondern Tag für Tag unser Leben bestimmt. Mit der Meinungsfreiheit hält es die bürgerliche Klasse offenbar wie mit der Gewalt: Entscheidend ist nicht was getan wird, sondern in wessen Interesse.

Wenn einem aber nichts Anderes übrigbleibt…

Blockade der Lesung von de MaiziereTrotz alledem sind auch wir selbstkritisch. Mit den Worten Ulrike Meinhofs: Auch wir halten eine Blockade keineswegs für ein ganz besonders geeignetes Mittel, um unseren Anliegen Gehör zu verschaffen. Wenn einem aber nichts Anderes übrigbleibt. Wenn man also nicht im Fernsehen sitzt, und wenigstens ein oder zweimal in der Woche wöchentlich ein oder zwei Stunden lang genau sagen kann, was man zu sagen hat. Wenn man nicht über die Millionenauflagen von Springer-Zeitungen und Illustrierten verfügt. Dann finden wir, dass es außerordentlich demokratisch ist, die einzige Öffentlichkeit, die dann für uns bleibt, nämlich die der Straße, zu benutzen.
Uns interessieren de Maizière und sein Buch nicht. Uns interessieren die Menschen, die gerade ermordet und vertrieben werden, weil die herrschende Klasse in Deutschland, ihre politischen Verwalter und ihre Steigbügelhalter in den Medien, eine mörderische Komplizenschaft mit der türkischen Regierung fortsetzen.
De Maizière muss seine Meinungsfreiheit nicht verteidigen. Verteidigen müssen sich die Kämpfer*Innen der SDF. Sie, ihre Familien und ihre Heimat, sollen von der türkischen NATO-Armee vernichtet werden. Wir werden diesem Verbrechen, dass auch ein Verbrechen der Bundesregierung ist, nicht tatenlos zusehen. Dabei erwarten wir von unseren Feinden weder Zustimmung noch Verständnis. Das einzige Verständnis, das wir erbitten, ist das Verständnis der kämpfenden Genoss*Innen für die Unzulänglichkeit unserer Unterstützung.

 

Richtigstellung: Die Darstellung in der FR, dass sich am 21.10. rund 100 Personen einer von uns organisierten Aktion angeschlossen hätten, stimmt so nicht. Wir waren an diesem Tag gemeinsam mit weiteren Kriegsgegner*Innen, Antirassist*Innen, Klimagerechtigkeitsaktivist*Innen, Antifaschist*Innen und kurdischen Genoss*Innen Teil einer gemeinsamen Aktion.

Bilder der Aktion stammen von LinksUnten Göttingen


Pressestimmen:

Meinungsfreiheit

Was haben Autonome gegen de Maizière?

Friederike Haupt, Frankfurter Allgemeine

Im Alten Rathaus in Göttingen liest der frühere Innenminister Thomas de Maizière aus seinem Buch übers Regieren. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Autonome, die das verhindern wollten. Im Namen der Revolution.

Im Café „Gartenlaube“ in Göttingen sitzen an diesem Abend zwei Männer, die hier nicht reinpassen. Die meisten Gäste sind laut und lustig, sie trinken Bier oder Wein. Draußen haben gerade die Glühweinbuden geschlossen, drinnen schäumt vorweihnachtliche Geselligkeit. Die beiden Männer aber sind still und ernst. Und wie um den Abstand zu den Lustigen zu betonen, bestellen sie kein Bier, keinen Wein; einer nimmt einen Kirsch-Bananen-Saft, der andere Pfefferminztee. Die Männer, Mitte zwanzig, in schwarzen Sweatshirts, sitzen hier, weil sie sich bereit erklärt haben, über Meinungsfreiheit zu sprechen. Sie sind Linksradikale, Antifa-Leute, und an diesem Abend waren sie gleich um die Ecke wieder im Einsatz. Gegen den Staat im Allgemeinen und gegen Thomas de Maizière im Besonderen.

Das Café liegt neben dem Alten Rathaus. Dort ist eben de Maizière aufgetreten. Vor einem Monat hatte er es schon einmal versucht. Er wollte aus seinem Buch übers Regieren lesen, eingeladen hatte ein örtliches Literaturfestival. Doch Linksradikale blockierten die Rathaustür, und de Maizière kam nicht hinein. Die Lesung fiel aus. Die Nachricht ging herum in Deutschland. Was war an diesem CDU-Politiker, Spitzname: Büroklammer, so schlimm, dass er bekämpft wurde wie ein gefährlicher Extremist? Es war, als würde man einen Golf anzünden, weil man gegen SUVs ist. Auch woanders ging es hoch her, und wieder ging es um die Meinungsfreiheit. In Hamburg musste der AfD-Gründer Bernd Lucke seine Vorlesung abbrechen. Die Aufregung war groß.

Als sie schon beinahe wieder vergessen war und die Göttinger sich freuten auf den Nachholtermin der Lesung von de Maizière, brannte mitten in der Nacht die Ausländerbehörde der Stadt. Das war vor einer Woche. Ein Bekennerschreiben erschien auf einer linken Internetplattform. Da hieß es, man habe de Maizières baldige Rückkehr nach Göttingen zum Anlass genommen, einen Teil des Systems anzugreifen, für das auch er steht. Der Polizeipräsident der Stadt und der Oberbürgermeister, ein SPD-Mann, werteten den Anschlag als Linksterrorismus. Eine Sonderkommission ermittelt.

Was sagen die beiden Männer im Café dazu? Ausdrücklich nichts. Das war ihre Bedingung für das Gespräch. „Da muss ich Sie enttäuschen“, hatte einer von ihnen vorher gesagt. Es sei eine neue Lage. Interessant, darüber nachzudenken. Aber so kurz danach sei man noch nicht sprechfähig dazu. Das klingt nicht gerade traurig oder schockiert, eher sogar so, als könnten, um es mit de Maizière zu sagen, Teile der Antwort die Bevölkerung verunsichern. Das nehmen die Männer in Kauf. Sie verweisen darauf, dass der Verfassungsschutz sie beobachte. Darum auch keine vollen Namen. Einer nennt sich Tom, der andere Johann.

Dutzende Polizisten patroullierten

Tom und Johann ist daran gelegen, dass die Stadt, also Göttingen, und das Land, also Deutschland, nicht zur Ruhe kommen. Sie wollen, wie sie sagen, die Revolution. Bis dahin ist es noch weit. Kein Grund, sich nicht auf den Weg zu machen. Johann war dabei, als sie vor einem Monat das Alte Rathaus blockierten, und Tom wollte auch, aber er war „gesundheitsbedingt verhindert“. Heute, an dem Abend, wo de Maizière jetzt doch auftrat, waren beide auf der Straße. Bei einer Kundgebung in Rufweite zum Vortragssaal, dazwischen lag nur eine kleine, warm leuchtende Insel aus Weihnachtsmarktbuden. Die Kundgebung verlief friedlich; aber es hätte auch nichts gebracht, wieder eine Blockade zu versuchen, denn diesmal waren Dutzende Polizisten da. Sie patrouillierten zwischen Bratwurstständen, standen vor dem Gummibärchenladen gegenüber vom Alten Rathaus, bewachten die Treppe zum Saal. Als Thomas de Maizière vorfuhr, eskortierten sie ihn rasch hinein.

Drinnen ging es wieder um Meinungsfreiheit. Bis zur Lesung war noch eine halbe Stunde Zeit. De Maizière wurde in einen urigen Saal dirigiert. Tagsüber dürfen hier Paare heiraten. Jetzt filmten Fernsehteams, Scheinwerfer richteten ihr Licht auf de Maizière, der ernst blinzelte und mit sonorer Stimme sprach. Auch wer kein Wort verstand, konnte verstehen: Es geht um etwas Wichtiges. Aber bitte bleiben Sie ruhig. Thomas de Maizière sagte, die Blockade vor vier Wochen habe keine „neue Qualität“ gehabt. Er kenne so etwas von früher. Er habe zum Beispiel mal, als Student in den Siebzigern, eine Veranstaltung mit dem damaligen SPD-Minister Georg Leber organisiert. Die habe ausfallen müssen, weil andere so heftig protestiert hätten. Es sei ihm extrem peinlich gewesen, so einen wichtigen Mann nach Hause zu schicken. Aber gut. Eine andere Sache sei nun der Anschlag auf die Ausländerbehörde. Das habe in der Tat eine neue Qualität gehabt.

„Veränderungen werden erkämpft“

Die Feuerwehr hatte Stunden gebraucht, um den Brand zu löschen. Das Gebäude ist seitdem geschlossen. Platten aus Pressspan versperren notdürftig zerstörte Türen und Fenster; die Wand darum ist schwarz von Ruß. Glasscherben auf dem Boden. Ein Absperrband taumelt schlaff im Wind. Jemand hat ein Blatt Papier mit Klebeband an die Mauer geklebt. „Wir hoffen, in absehbarer Zeit wieder für unsere Kunden da sein zu können.“ Das ist nicht die tote Sprache eines Apparats, sondern die von Menschen. Im Bekennerschreiben werden die Mitarbeiter der Ausländerbehörde direkt angesprochen: Sie seien Teil eines menschenverachtenden Systems und sollten aufhören mit dem, was sie tun. „Sonst hat das Konsequenzen.“

Tom und Johann verweisen auf den Stand der Debatte unter Autonomen. Danach werde dem menschlichen Leben, auch dem des politischen Gegners, ein hoher Wert zuerkannt. Zugleich sind sie nicht grundsätzlich gegen Gewalt. Johann sagt: „Alle wesentlichen Veränderungen wurden erkämpft, auch militant.“ Die beiden Männer kommen, wie sie sagen, aus der Tradition einer Göttinger Antifa-Gruppe, die es nicht mehr gibt. Sie hieß „Autonome Antifa \[M\]“. Gegen einige, die damals dabei waren, wurde ermittelt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Polizei durchsuchte ihre Wohnungen und auch den „Roten Buchladen“, in dem sie häufig waren. Das Verfahren gegen sie wurde eingestellt, sie zahlten Geldstrafen.

„Zitiert nach Ulrike Meinhof“

In dem Buchladen sind Tom und Johann heute oft. Sie sagen, sie lesen viel. Außerdem hat ihre Gruppe dort ein Postfach. Die Gruppe heißt „Antifaschistische Linke International“. Sie war es auch, die an diesem Abend zum Protest eingeladen hatte. Das Motto war mit Bedacht gewählt: „Außerordentlich demokratisch – Freie Radikale reden radikal frei“. Tom weist darauf hin, dass der erste Teil ein Zitat von Ulrike Meinhof sei. Sie hatte 1967 in einem Interview gesagt, es sei „außerordentlich demokratisch“, wenn Leute die Öffentlichkeit der Straße nutzten, um ihre Meinung kundzutun. Eigentlich eine Allerweltsmeinung. Hier zitiert nach einer späteren Terroristin.

Die beiden Männer sagen, Thomas de Maizière sei ihnen egal. Er ist für sie nicht der Schlimmste von allen. Sondern einer von vielen. Er repräsentiert ein System, den deutschen Staat. Und er war in der Nähe, als die Autonomen in Göttingen wieder einmal besonders wütend waren auf den Staat. Es war wenige Tage her, dass die Türkei in Nordsyrien einmarschiert war. Die Autonomen sind auf der Seite der Kurden. Sie werfen Deutschland vor, dass es Erdogan unterstütze. Zum Beispiel schicke es ihm Waffen, und das seit vielen Jahren, auch unter Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Also traf es seine Lesung. Tom und Johann finden, verglichen mit den Kurden gehe es ihm noch gut. Und auch verglichen mit der großen Mehrheit der Menschen. Für die sei es Alltag, nicht reden zu dürfen. So sprechen auch Rechtsradikale: Nichts darf man mehr sagen, nur die da oben dürfen.

Ruf nach Berufs- und Sprechverboten

Die Wahrheit ist aber, dass Politiker deshalb da oben sind, weil das Volk die Normalbürger, die sie mal waren, dahin gewählt hat. So funktioniert Demokratie. Wer den Umsturz will, muss nicht einen Politiker loswerden, sondern alle. Und tatsächlich tauchten am Tag nach dem Brand in Göttingen Graffiti auf, die man so verstehen konnte. Rote Farbe, durch eine Schablone gesprüht. Die Gesichter von de Maizière und Jürgen Trittin. Der Grüne hat seinen Wahlkreis in der Stadt. Über den Gesichtern stand: „Ob grün, ob braun“. Und darunter: „Faschismus ist keine Meinung, sondern Mord! Berufs-, Betätigungs- und Sprechverbote für Staatsterroristenfaschisten!“ Die Politiker haben demnach ihr Recht zu reden verwirkt. Also müsste jemand sie dauerhaft davon abhalten.

Im Alten Rathaus warnte Thomas de Maizière sein Publikum an diesem Abend auch vor „Gewaltexzessen sprachlicher Art“. Jeder Einzelne solle sich prüfen. Zum Beispiel darauf, ob er im Stau oder sonstwo schon mal „Scheiß Bulle“ gesagt habe. Da gehe es schon los mit der Respektlosigkeit. Die Leute hörten still zu. Immer, wenn die Tür aufging, schauten mehrere Polizisten in Zivil hin. Aber niemand störte. Als de Maizière fragte, ob er weiterlesen solle oder man ihm lieber Fragen stellen wolle, schallte es durch den Saal: „Lesen!“ Es war, als wollten die Göttinger zeigen, dass sie den Politiker höflich ausreden ließen. Eine Wiedergutmachung für die Blockade. Viele sprachen vor und nach der Lesung darüber. Auch am Büchertisch der Buchhandlung „Eulenspiegel“. Der Inhaber sorgt sich um die Stimmung in der Stadt. Vor allem wegen der Brandstiftung. Nichts gegen Linke, er habe früher auch der Hausbesetzerszene nahegestanden. Aber das? Nein.

Buchläden sind in Göttingen so was wie Wirtshäuser. Alle gehen hin und reden über das, was sie bewegt. Fast keine andere Stadt in Deutschland hat so viele Buchhandlungen, auf die Einwohner gerechnet. Die Bücher, die in einer Buchhandlung stehen, zeigen, wie viele Meinungen es in einem Raum miteinander aushalten. Der „Eulenspiegel“ ist spezialisiert auf Esoterik; früher hatte er mehr Kunst, aber Feng Shui kam besser an. Im Schaufenster liegen auch politische Sachbücher: zum Beispiel das von de Maizière, aber auch eines von Muhammad Yunus, dem Friedensnobelpreisträger, der die Armut abschaffen will.

Thema Meinungsfreiheit zu groß?

Auch im „Roten Buchladen“ ist alles voll mit politischen Büchern. Auf den Tischen im Eingang liegen welche mit den Titeln „Heimat ist Albtraum“ und „Desintegriert euch!“, andere handeln von Revolte in der Stadt. Weiter hinten gibt es aber auch Houellebecq. An der Kasse hängt ein Schild. Es verspricht, man könne hier fast jedes Buch bestellen. Auch das von Thomas de Maizière? „Selbstverständlich“, sagt die Buchhändlerin. Das habe bisher noch keiner geordert. Aber es ginge. Die Buchhändlerin findet, das Thema Meinungsfreiheit sei hochgeschrieben worden nach der Blockade. Viel größer sei das Thema Rechtsextremismus. Sie berichtet von einer gewalttätigen Neonazi-Gruppe, die immer wieder in der Stadt unterwegs sei. Auch der Verfassungsschutz stuft die Region als einen „Schwerpunkt neonazistischer Aktivitäten“ ein. Es scheint, als rollten sich in Göttingen die politischen Ränder in Richtung Mitte auf.

Zugleich beansprucht die Mitte ihren Platz. Auf Weihnachtsmärkten und auf Lesungen. Die Göttinger trinken Glühwein neben Anti-Terror-Betonklötzen, besuchen Lesungen unter Polizeischutz und laufen an Hakenkreuz-Sprühereien vorbei. In der „Gartenlaube“ wird es immer fröhlicher. Tom und Johann haben sich verabschiedet.

 


Antifa in Göttingen

„Eine Gesellschaft, in der eine Verwaltungselite unter ‚Meinungsfreiheit‘ ihr Monopol auf Machtausübung versteht“

Sonja Thomaser, Frankfurter Rundschau

Nach der Blockadeaktion gegen Thomas de Maizière in Göttingen äußern sich die Antifaschistische Linke International (A.L.I.) und der Geschäftsführer des Literaturherbstes.

Ende Oktober hatte eine Protestaktion beim Literaturherbst in Göttingen für Schlagzeilen gesorgt: Eine Lesung des ehemaligen Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Maizière (CDU) wurde von linken Aktivist*innen blockiert. Die Aktion wurde scharf kritisiert und befeuerte die Debatte um eine angebliche Beschränkung der Meinungsfreiheit.

Rund 100 Demonstranten hatten sich an der Aktion in Göttingen, die von der Antifaschistische Linke International (A.L.I.) organisiert wurde, beteiligt. Der Protest sollte auf den Angriffskrieg der Türkei in Nordsyrien und die Rolle der deutschen Politik, insbesondere die von Thomas de Maizière, aufmerksam machen.

In den Medien und von Politiker*innen wurde die Blockade im Nachhinein mehrfach als „gewalttätig“ bezeichnet. Laut Polizei hat es aber keine körperlichen Auseinandersetzungen oder Verletzten bei der Aktion gegeben.

Johannes-Peter Herberhold: Blockade in Göttingen war Gewalt

Der Geschäftsführer des Göttinger Literaturherbstes, Johannes-Peter Herberhold, bewertet die Situation allerdings etwas anders. Für ihn war die Blockade grundsätzlich schon eine Aktion, von der Gewalt ausging: „Es wurden Menschen daran gehindert, in einen öffentlichen Raum zu gelangen, und andere Menschen, die sich in diesem öffentlichen Raum befanden, konnten nicht heraus. Ich habe versucht, hineinzugelangen, die Blockierer versuchten, mich abzuhalten, zogen und schoben an mir herum, hielten mich mit kräftigem Griff fest. Als ich mich losriss, flogen die Knöpfe meines Hemdes, Jackettnähte rissen.“

Die A.L.I. und auch ihre Vorgängerorganisation hätten zwar seit Jahrzehnten immer wieder gelungene zivilgesellschaftliche Proteste durchgeführt, „aber die Blockade des Göttinger Rathauses gehört meines Erachtens nicht zu den glücklichsten“, so Herberhold.

Auch die A.L.I. selbst bewertet ihre Aktion durchaus kritisch: „Auch wir halten eine Blockade keineswegs für ein ganz besonders geeignetes Mittel, um unseren Anliegen Gehör zu verschaffen.“ 

Sie sieht aber ein Problem darin, dass ihr wenig andere Möglichkeiten bleiben, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihre Anliegen zu lenken: „Wenn einem aber nichts Anderes übrigbleibt. Wenn man also nicht im Fernsehen sitzt und wenigstens ein oder zweimal in der Woche wöchentlich ein oder zwei Stunden lang genau sagen kann, was man zu sagen hat. Wenn man nicht über die Millionenauflagen von Springer-Zeitungen und Illustrierten verfügt. Dann finden wir, dass es außerordentlich demokratisch ist, die einzige Öffentlichkeit, die dann für uns bleibt, nämlich die der Straße, zu benutzen.“ 

Thomas de Maizière sei nicht in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt worden

Die A.L.I. findet gerade in diesem Zusammenhang den Vorwurf, sie habe die Meinungsfreiheit von Thomas de Maizière verletzt, absurd: „Wir haben Thomas de Maizière für zwei Stunden verwehrt, aus seinem Buch vorzulesen. Als Spitzenpolitiker konnte er sich dazu in den Tagen nach unserer Aktion in den Medien und im Bundestag auslassen.“ Der Skandal scheine wohl darin zu bestehen, dass einer, der immer Gehör findet, es einmal nicht gefunden habe, so die A.L.I. 

Empört seien vor allem Menschen, die das Privileg haben, ihre Meinung immer ungehindert einer großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für sie erscheine dann selbst die kürzeste Einschränkung dieser Privilegien als Provokation. Dies stehe im krassen Gegensatz zur Gesamtgesellschaft: „Schließlich ist die Erfahrung, nicht reden zu dürfen und nicht gehört zu werden, für die große Mehrheit schlicht Alltag.“ 

Für die A.L.I. ist diese Debatte um Meinungsfreiheit nach der Blockade in Göttingen entlarvend: „Es ist die Realität einer Gesellschaft, in der eine Verwaltungselite unter ‚Meinungsfreiheit‘ ihr Monopol auf Machtausübung versteht.“

Gleichsetzung von linkem Protest und rechter Gewalt

Auch die Gleichsetzung von linkem Protest und rechter Gewalt sieht die A.L.I. sehr kritisch. So verglich CSU-Generalsekretär Markus Blume die Aktion in Göttingen mit Bücherverbrennungen im deutschen Faschismus, was die A.L.I. entschieden zurückwies. 

Auch Herberhold geriet in die Kritik, da er in einem Interview mit dem NDR die Blockadeaktion in Göttingen in einer Reihe mit rechtsextremen Morden nannte: „Da gibt es hier einen antisemitischen Anschlag, da werden auf der einen Seite Ausländer gehetzt, da wird ein Regierungspräsident umgebracht, da kann ein Hochschullehrer seine Vorlesung nicht abhalten - und da kann Thomas de Maizière in Göttingen keine öffentliche Veranstaltung machen.“ 

Herberhold nimmt sich die Kritik zu Herzen und stellt klar: „Dass Morde und Menschenjagden dabei auf einer ungleich höheren Gewaltstufe stehen als Blockaden, ist für mich selbstverständlich. Wenn ich da missverstanden wurde, tut es mir leid. Ich versuche, das zukünftig besser zu machen.“ 

Kritik am Krieg in Nordsyrien 

Wichtig ist für die A.L.I. vor allem eine inhaltliche Auseinandersetzung: „Uns interessieren die Menschen, die gerade ermordet und vertrieben werden.“ Sie will auch weiterhin auf den Krieg in Nordsyrien aufmerksam machen: „De Maizière muss seine Meinungsfreiheit nicht verteidigen. Verteidigen müssen sich die Kämpfer*innen der SDF. Sie, ihre Familien und ihre Heimat, sollen von der türkischen NATO-Armee vernichtet werden.“ 

Die Lesung mit Thomas de Maizière wird am 26. November im Alten Rathaus in Göttingen nachgeholt.

 

Vorhang auf!

Elsa Koester, Der Freitag

#baseballschlägerjahre Organisationen wie die Antifa bedrohen die Meinungsfreiheit, heißt es in den Medien. Dabei müssten uns die Erinnerungen an die 1990er-Jahre eines Besseren belehren

Da ist sie wieder, die Göttinger Antifa. „Die Antifa“. Sie bedroht die Meinungsfreiheit in Deutschland, weil sie Thomas de Maizière an einer Lesung hinderte, meinen drei führende Wochenzeitungen. Die Göttinger Antifa ist nicht irgendeine Antifa, sie hat Geschichte: 1990 wurde dort die Antifa [M] gegründet, eine treibende Kraft der bundesweiten Antifa-Vernetzung AA/BO. Sie stellte sich der Neonazi-Gewalt auf den Straßen der westdeutschen Stadt erfolgreich entgegen – so erfolgreich, dass das sogar vom Göttinger Oberstaatsanwalt gewürdigt wurde: Dass es in Göttingen kaum noch Nazi-Aktivitäten gebe, habe „neben der strafrechtlichen Verfolgung“ auch „die Präsenz einer starken antifaschistischen Szene“ bewirkt, sagte Hans Hugo Heimgärtner 2011.

Wie es in den 1990ern auf den Straßen in West und Ost aussah, das ließ sich in den vergangenen Tagen auf Twitter nachlesen. Anlass für die Hunderten Berichte über die Neonazi-Gewalt war ein Bericht des Zugezogen-Maskulin-Rappers Hendrik Bolz im Freitag. „Die Erwachsenen“, schrieb Bolz, „huschten selber draußen im Dunkeln wie flinke Mäuse von Wohnung zu Wohnung und zogen bei Geschrei die Vorhänge zu.“ Der Rapper ist in Stralsund aufgewachsen, und im Freitag schrieb er über Glatzen in Bomberjacken, über „Baseballschläger, Stahlkappen, Schlagstöcke, zu Brei kloppen, abstechen, Bordsteinfressen, Opfern am Boden auf dem Kopf rumspringen“. „Baseballschlägerjahre, nannte das der Zeit Online-Journalist Christian Bangel, twitterte Bolz' Artikel – und erhielt Hunderte ähnlicher Berichte als Antwort. Vertragsarbeiter, die sich wie Freiwild fühlten. Jugendliche, die ins Krankenhaus geprügelt wurden. Rannten, ständig rannten. Der Hashtag trendete.

Es ist, als würde die kollektive Traumatherapie der Wendegeneration weiter voranschreiten: Erst der revolutionäre Herbst. Dann der Mauerfall. Und jetzt eben: die 1990er. National befreite Zonen, Neonazis im Osten nehmen sich die Macht, die auf der Straße liegt; im Westen nutzen sie den frisch erblühten Nationalstolz. Das Problem ist nur: Die Baseballschlägerjahre sind keine Jugendgeschichten. Die Jugendlichen von damals sind die Erwachsenen von heute. Alle.

Die Neonazis von damals sind heute im besten AfD-Wahlalter

Die stärkste Wählerschaft der AfD sind Männer zwischen 30 und 59. Es sind Männer, schreibt der Rechtsextremismus-Forscher David Begrich, deren Pubertät und Jugend in die Hochphase der Hegemonie rechtsextremer Jugendkultur in Ostdeutschland fiel. Drei Phasen unterteilt Begrich: Beginn Mitte der 80er, erster Höhepunkt zwischen 1990-1992, Hochplateauphase 1994 bis 1997. Die jagenden Neonazis von damals sind heute im besten AfD-Wahlalter.

Und natürlich: Teil der Gesellschaft. Die wenigsten „freien Kameraden“ sind zu den Hells Angels gegangen, oder in den Untergrund (500 Neonazis, nach denen die Polizei fahndet, sind derzeit nicht auffindbar). Viele haben Familie, sind gut vernetzt in ihrer Stadt, haben einen Job. Zum Beispiel bei der Polizei. Oder bei der Bundeswehr. Wo sie rechte Netzwerke schmieden, Todeslisten anfertigen und Drohungen verschicken. Manche wurden Landeschefs der AfD.

Auch „die Erwachsenen“ von damals gibt es noch. Jene, die den „Asylkompromiss“ verabschiedeten, nachdem der Mob in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Wohnheime für Geflüchtete angriff. Jene, die es während der 1990er durchweg vermieden, von Neonazi-Gewalt zu sprechen, und stets nur „Jugendgewalt, vonrechtsundlinks“ sagten, ein Wort. Die gibt es noch. Vonrechtsundlinks, sagen sie. Von rechts: Terroranschläge, Morde, Morddrohungen gegen Politiker*innen, fast 200 Tote seit 1990. Von Links? „Die Antifa“ blockiert in Göttingen den ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière.

Da ist er wieder, der Vorhang „der Erwachsenen“

Es ist, als würde sich noch etwas aus den 1990er Jahren wiederholen: Während deutschlandweit Rechtsextreme immer mehr Land gewinnen, diskutieren „die Erwachsenen“ über die Gefahren durch „die Antifa“. Die Mitglieder der Antifa M. übrigens wurden 1995 wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt (§129a). Dennoch hielt sich die antifaschistische Szene in Göttingen auch während der Phase Kriminalisierung. Die Antifaschistische Linke International (A.L.I.) ist eine Nachfolgeinitiative der alten Antifa M. Im Oktober 2019 blockierte sie Thomas de Maizière, um auf die verschärfte Verfolgung linker Kurden in Deutschland unter seiner Regierung als Innenminister aufmerksam zu machen. Denn dass die CDU gut darin ist, Linke zu kriminalisieren, aber bei Rechtsextremen jahrzehntelang versagt – das weiß wohl niemand besser als die Göttinger Antifa.

Dennoch ist es ihre Aktion, die von Zeit über Spiegel bis FAS als Gefährdung der Meinungsfreiheit diskutiert wird. Während in der Thüringer CDU darüber nachgedacht wird, mithilfe eines Faschisten an die Regierung zu kommen. Da ist er wieder, der Vorhang der „Erwachsenen“.

Doch die Jugendlichen von damals müssen heute nicht mehr rennen. Sie sind erwachsen, sie sitzen in den Redaktionen, wie Christian Bangel oder Daniel Schulz, sie sind Autorinnen geworden, wie Manja Präkels oder Peter Richter, und sie erzählen. Sie ziehen den Vorhang auf. Die Frage ist nur: Können alle sehen?

 

 

Bottom Line