Les Gracieuses (OmU)

Filmvorführung (auf französisch mit deutschen Utertiteln) und Diskussion mit der Regiesseurin Fatima SissaniLes Gracieuses

Dokumentarfilm

Montag 12.06.2017 |20 Uhr

Kino Lumière | Geismarlandstraße 19 | Göttingen

FilmInitiativ e.V. | Les Gracieuses

FilmInitiativ e.V.Les Gracieuses ist ein französischer Dokumentarfilm, der sechs Frauen in den Fokus rückt - ohne die gängigen Vorurteile, die eine unreflektiert männliche, weiße, eurozentristische Brille mit sich bringt. Die Frauen einen: Freundschaft, ein pariser Banlieue, familiäre Migrationsbiografien und der Wille selbstbestimmt zu leben. Sie lassen sich nicht an den Rand drängen, weder aus klassisitischen, sexistischen noch aus rassistischen Beweggründen. Gemeinsam mit der Regiesseurin Fatima Sissani möchten wir die momentanen Entwicklungen rund um den Dauer-Ausnahmezustand, der Neoliberalisierung à la Agenda 2010 und den Front National diskutieren.


Die Veranstaltung findet statt in Zusammenarbeit mit dem Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur und FilmInitiativ e.V.
Die deutsche Untertitelung des Films "Les Gracieuses" und die Einladung der Regiesseurin Fatima Sissani wurde im Rahmen des Projekts "Sisters in African Cinema" gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

 

Kleiner Rückblick:

Nach der Filmvorführung kam die Regiesseurin Fatima Sissani in den Kinosaal, um mit den anwesenden ZuschauerInnen eine äußerst intensive, kontroverse und spannende Diskussion zu führen.

Ihr Eingangsstatement zu der Frage was sie motiviert hat diesen Dokumentarfilm zu drehen ist passioniert, denn sie möchte einen authentischen Blick aus der Perspektive eines pariser Banlieues zeigen. In der französischen (und deutschen) Berichterstattung über Banlieues überwiegen Sexismus, Klassismus und Rassismus. Die Medien sprechen über die Banlieues und nicht mit den Menschen, die dort leben, als ebenbürtigen GesprächspartnerInnen. Die transportierten Bilder fasst sie so zusammen: es geht meistens um Männer, die gewalttätig sind, mit Drogen in Verbindung stehen und Frauen verachten. Dabei werden die Eigenschaften männlich, Schwarz/of Colour, arabisch, gewalttätig und muslimisch als quasi-Standard angelegt, erwartet und - oh Wunder - in dieser Erwartung gesehen und das Bild manifestiert. Frauen seien höchstens als Opfer männlicher, muslimischer Gewalttäter präsent. Konflikte in den Banlieues werden monokausal auf eine vermeintlich statische, "fremde" Kultur zurückgeführt. Die tatsächlichen, individuellen Lebensrealitäten spielen dabei keine Rolle. Diesem Vorurteil möchte sie ihren Film entgegensetzen. Die Frauen, die sie begleitet hat, widersprechen dem Klischee. Sie sind selbstbewusst, reflektiert und wehren sich gegen die Diskriminierung, mit der sie alltäglich konfrontiert werden. Dabei sind sie nicht als "Ausnahme von der Regel" zu verstehen. Es gilt die Klischees ersatzlos zu streichen.

Zu der auch im Film angesprochenen "Integrationsdebatte" bleibt wohl festzuhalten, dass die ritualisierten pseudo-Diskussionen, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, nicht dem Interesse an einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft entspringen. Integration bleibt ambivalent: auf der einen Seite gibt es kein allgemeingültiges, anerkanntes Verständnis davon, was Integration bedeutet. Es wird eine Gruppe von Menschen konstruiert, die sich außerhalb einer Gesellschaft befände. Fraglich dabei ist, wie ein Teil der Gesellschaft im selben Augenblick kein Teil eben jener sein kann. Auf der anderen Seite sind die Rollen klar verteilt: es gibt diejenigen, die die Fragen (wieder und wieder und wieder) stellen und sich, dadurch dass sie diese Rolle übernehmen, a) die Deutungshohheit über soziale Zugehörigkeit(en) aneignen und ihre eigene Position - nämlich weiß, ableisiert, heterosexuell, christlich und (in diesem Fall) französischer Staatsbürgerinnenschaft - als Norm setzen, an der sich andere messen lassen müssen und b) diese Normalisierung einhergeht mit einer Hierarchisierung darüber, dass bestimmte Eigenschaften verbunden werden mit einer Privilegierung. Diese Privilegien betreffen beispielsweise den Zugang zu grundlegenden Ressourcen, wie Nahrung, Bildung und Obdach. Die Kehrseite der Fragenden sind die, die ge-, be- und ausgefragt werden. Deutlich wird, dass auch hier bestimmbare Eigenschaften durch diese Frage nach "Integration" in eine permanente Rechtfertigungsposition verwiesen werden. Ihre Existenz in der Gesellschaft und ihre Zugehörigkeit werden grundlegend, und immer wieder in Frage gestellt. Die Befragten - Schwarz/ of Colour; (zugeschrieben) arabisch und muslimisch; mit Namen, die nicht-französisch/nicht-christlichen Ursprungs sind - müssen sich darüber hinaus mit einem augeprägten Misstrauen und Vorurteilen auseinandersetzen: so werden sie besonders durchleuchtet in Bezug auf beispielsweise "Achtung von Recht und Gesetz", ihr vermutet patriarchales und antiquiertes Geschlechter(-rollen-)bild, Antisemitismus, religiösen Fanatismus, "Arbeitsmoral", Migrationsgeschichte, Bildung/Qualifikation/Fähigkeiten und eine statische, "rückwärtsgewandte" Kultur im Allgemeinen. Daher plädiert die Regiesseurin dafür die Integrationsdebatte zu beenden. Statt sich an Vorurteilen abarbeiten zu müssen, könnte die frei werdende Kraft auf eine kritische und konstruktive Gesellschaftsanalyse verwendet werden.

In Bezug auf die die Diskriminierung in Frankreich und Europa bleibt eine globale, internationalistische und intersektionale Perspektive unentbehrlich. Diskriminierung ist im Neoliberalismus ein Ordnungsmechanismus, um sicherzustellen, dass die Prinzipien des stetigen Wachstums und der Profitmaximierung erreicht werden. Diskriminierung ist kein Zufall, kein Fehler im System, sondern eine Art der Strukturierung. Produktions- und Konsumverhältnisse sind globalisiert und müssen globalisiert analysiert werden. Der kulturalisierende Blick auf Menschen und soziale Konflikte verhindert eine umfassende Analyse, indem Vorurteile und Stereotype die Maßstäbe sind, an denen man sich erst abarbeiten muss.

 

Die gesamte Diskussion ging bis nach Mitternacht, daher können nicht alle angesprochenen Themen auch ausführlich in diesem Kurzbericht erscheinen. Einen solidarischen Dank an alle, die miteinander diskutiert haben und besonders an die Regiesseurin Fatima Sissani, die aus Frankreich angereist ist für diesen Abend!