A woman's voice is a revolution!

Als Antifa eine neue antirassistische und feministische Praxis entwickeln

Deko-Saeule bei der Veranstaltung mit Emine und OzanVeranstaltungreihe zu anti-muslimischem Rassismus und muslimischem Feminismus

++ 60 Leute beim I,Slam, Poetry-Slam von jungen MuslimInnen ++ Diskussion mit den AktivistInnen Emine Aslan und Ozan Keskinkilic zu unserer Broschüre "A woman's voice is a revolution" ++ "Die lange Nacht des muslimischen Punkrocks" mit Siebdruck und "pigs are haram in Islam!" ++

Veranstaltungsberichte I,Slam | Diskussion zwischen Emine und Ozan und der A.L.I. | Muslimische Punkrock-Nacht

Das Thema des Islam ist zu wirkmächtig, um es länger zu ignorieren: es ist verwoben mit anti-muslimischem Rassismus in Westeuropa und den USA; linken Kämpfen, die in Nordafrika und Westasien geführt werden und fundamentalistischen Ausprägungen des Islam.

Seit den jihadistischen Anschlägen am 11. September 2001 wurde die Welt neu geordnet, so dass sich neue Polarisierungen entwickelt haben. Wir wollen aus den Polarisierungen ausbrechen, differenzierte Sichtweisen entwickeln und aufeinander zugehen, indem wir innerhalb dieser Ordnungen und Dynamiken (strategische) BündnispartnerInnen suchen. Dies sind für uns unter anderem emanzipatorische Muslima und Muslime, die zwar von einer ganz anderen Perspektive aus, aber mit einem ähnlichen Ziel gegen anti-muslimischen Rassismus sowie fundamentalistische Muslime kämpfen.

An Muslima und Muslime stellen die fundamentalistischen und jihadistischen Bewegungen ganz eigene Herausforderungen. Wir wollen kennen lernen, wie emanzipatorische Muslime aus ihren Perspektiven und Interpretationen heraus mit diesen Herausforderungen umgehen und wie sie die inner-muslimischen Dynamiken einschätzen. Wir können nur gemeinsam mit emanzipatorischen Muslima und Muslimen agieren, wenn wir die Kämpfe innerhalb des Islams kennen lernen. Umgeben von anti-muslimischen Diskursen und Debatten in Europa und den USA, die „den Islam“ als „rückständig“ und „frauenverachtend“ darstellen, interessieren uns gerade die feministischen Kämpfe in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die meist muslimisch begründet sind.

Saut al-marah thawrah Öffentlicher Raum, Göttingen 2016 Uprising of Women in the Arab World Solidarity Day, Kairo 2011.

Gemeinsam mit dem Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V. haben wir eine Broschüre zum Thema und verschiedene Veranstaltungen organisiert.


Veranstaltungsberichte:
I,Slam | Diskussionsveranstaltung mit Emine Aslan & Ozan Keskinkilic | "Die lange Nacht des muslimischen Punkrocks" |



Broschüren:
Broschüre "A woman's voice is a revolution | Vergangene feministische Broschüren: fight sexism&racism und Reiseführerin durch den Geschlechterdschungel


Lieblings-Buchladen:
Schaufenster des Roten Buchladens



Veranstaltungberichte

I,Slam: Poetry-Slam von jungen MuslimInnen


Am Samstag, den 21. Mai 2016 luden wir das Team vom I,Slam ein: I,Slam ist ein Wortspiel zwischen "I slam" (Ich slamme) und "Islam". Es ist die muslimische Version des Poetry Slam; dem Dichterwettstreit, bei dem sich junge Muslima und Muslime der Kunst der Worte zu bedienen, um auf der Bühne über für sie relevante Themen zu sprechen. Der Inhalt der Texte ist religiös und/oder politisch. Vielfalt ist das Motto und Qualität oder Innovativität sind die Voraussetzungen. Hintergrund des I,Slam ist der Empowerment-Gedanke. Junge Muslima und Muslime sollen in ihrer Identität und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden und durch ihr Auftreten rassistische Stereotype bekämpfen.

Vier Muslima/e aus Berlin und München slammten gemeinsam mit drei antifaschistischen AktivistInnen aus Göttingen gegen anti-muslimischen Rassismus. Der Gedanke dabei war, aus den separierten Handlungsräumen von "uns" und "Muslima/Muslimen" auszubrechen. Wir sind seit dem 11. September 2001 umgeben von anti-muslimischen Rassismus, der sich in den letzten wenigen Jahren noch stark zugespitzt hat. Wie schwerwiegend der Fehler ist, nicht mit Menschen, die von (anti-muslimischem) Rassismus betroffen sind - seien dies Muslima/e oder Menschen, denen dies zugeschrieben wird - sehen wir an der Mordserie des NSU: den betroffenen migrantischen communities war von Anfang an klar, dass es sich bei den entsprechenden Morden um rassitische Morde handelte - während das bundesdeutsche Antifasprektrum diese Morde noch nicht einmal registriert hat. Diesen Fehler reflektieren wir und wollen gemeinsam in Aktion treten - deshalb traten die I,SlammerInnen und die Göttinger Antifas gemeinsam und bunt durchmischt auf.

Die Darbietungen waren sehr vielfältig: teil sehr persönlich, teils abstrakt; manchmal nachdenklich, manchmal witzig - aber immer politisch. Etwa 60 Personen besuchten dieses Event und voteten lautstark für die Gewinnerin und den Gewinner. Öznur und Ilhan vom "Team I,Slam" gewannen den Wettstreit und konnten sich dafür jeweils ein Buch vom thematischen Büchertisch des Roten Buchladens aussuchen.

Literarisches Zentrum I,Slam, Mai 2016: Öznur Yuseff I,Slam in Göttingen, Mai 2016 Waseem I,Slam: Ilhan Öznur Ilhan I,Slam in Göttingen, Mai 2016 Yuseff Bücher- und Infotisch



Broschürenvorstellung und Diskussion: mit den AktivistInnen Emine Aslan und Ozan Keskinkilic und der A.L.I.


Am Freitag, den 27. Mai stellten wir die Inhalte unserer Broschüre "A woman's voice is a revolution" zur Diskussion: wir ließen ausgewählte Inhalte von den AktivistInnen Emine und Aslan aus Frankfurt und Ozan Keskinkilic aus Berlin kommentieren, um nicht-weiße, muslimische Perspektiven auf die Themen "anti-muslimischer Rassismus" und "muslimischer Feminismus" kennen zu lernen. Emine Aslan ist Studentin, Aktivistin und Bloggerin. Sie arbeitet und schreibt zu Themen wie Rassismus, Feminismus und Post-Kolonialen Perspektiven. Sie ist Mitbegründerin der People of Color Hochschulgruppe Mainz und Initiatorin von #CampusRassismus. Sie twittert unter @emineElShabazz. Ozan Keskinkilic ist Aktivist und studiert Internationale Beziehung an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören kritische Migrationsforschung, Rassismus, Kolonialismus und globale Ungleichheiten im historischen Kontext. Unter @ozankeskinkilic twittert er über Alltagsrassismus, koloniale Kontinuitäten und das Leben in der Diaspora.

Emine stellte heraus, dass unsere Veranstaltungsanfrage an sie die erste war, die sie jemals von einer weißen, deutschen linken Gruppe an Muslima/e wahrgenommen habe. Für sie ist diese "erste Kontaktaufnahm" längst überfällig.

Al-hurriya: Die Freiheit! Deko bei der Veranslatung mit Emine und Ozan: Fotos, die in der Broschüre verwendet wurden Antifa-Infotisch Deko

Wir befragten beide AktivistInnen zu Themen, die bei uns in der Gruppe offene Fragen geblieben sind. Wir fragten sie nach der Rolle der Religion für sie als AktivistInnen, nach Zusammenhängen zwischen anti-muslimischem Rassismus und Jihadismus sowie nach ihren Erfahrungen zur Zusammenarbeit mit weißen, deutschen Linken. Beide waren in der Vergangenheit in entsprechenden Zusammenhängen aktiv, haben sich aber wieder zurückgezogen, weil sie zu viele Anfeindungen als Muslime in diesen Initiativen erfahren haben. Für uns waren die Beträge von Emine und Ozan sehr bereichernd und lehrreich - tatsächlich haben sie die Dinge ganz anders eingeordnet, als wir das aus unseren "üblichen" Diskussionszusammenhängen kennen.

Thematischer Büchertisch vom Roten Buchladen Deko bei der Veranslatung mit Emine und Ozan: Fotos vom I,Slam Deko

Knapp 40 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. In der Diskussion bestärkte Saboura Naqshband aus Berlin, die selbst in muslimischen queer-feministischen Zusammenhängen in Berlin aktiv ist, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, die bisher aber nicht vorhanden ist, weil sich weiße, deutsche linke Gruppen bisher kein Stück auf muslimische linke AktivistInnen zubewegen. Eine Antifaschistin aus Göttingen interessierte sich in der Diskussion für die Frage, ob wir Erfahrungen aus feministischen Kämpfen auf das Themenfeld "anti-muslimischen Rassismus" übertragen könnten.

Podium Emine und Ozan Emine Aslan Ozan Keskinkilic Veranstaltung mit Emine und Ozan


"Die lange Nacht des muslimischen Punkrocks"


Am Samtag, den 28. Mai 2016 organisierten wir im besetzten Haus "OM10" die "Lange Nacht des muslimischen Punkrocks". Wir zeigten die drei Filme "The Taqwacores", "Taqwacore - The birth of Punk Islam" und "Punk im Dschungel". Die ersten beiden Filme zeigen die muslimische Punkrockbewegung "Taqwacore" in den USA (von taqwa: Ehrfurcht vor Allah und core: von Hardcore). Nachdem der US-amerikanische Konvertit Michael Muhammed Knight in einem fiktiven Roman die bis dahin nicht existente Taqwacore-Bewegung entwirft, fühlen sich junge Muslime von diesem Roman so angesprochen davon, dass sie daraufhin die ersten muslimischen Punkband gründen: The Kominas, Secret Trial Five, Vote Hezbollah oder Al-Thawrah. Die Doku "Taqwacore" zeichnet ihre reale Geschichte nach. Der dritte Film zeigt muslimische Punkbands in Indonesien, dem Land mit der größten muslimischen Mehrheitsgesellschaft der Welt. Hier hat Punkrock eine lange, und vor allem: eine sehr politische, linke Tradition".

Insgesamt schauten gut 40 Menschen den Abend über den Filmen zu. Das Publikum war bunt gemischt mit linken US-amerikanischen Austausch-Studentinnen, refugees, feministischen Muslima und linker Göttinger Szene. und Begleitet wurde der Abend mit Siebdruck vom Kulturkollektiv/Stilbrvch: das Motiv "A woman's voice is a revolution" wurde als Aufnäher, T-Shirt und Stoffbeutel gedruckt - oder ganz punkrock-mäßig: direkt auf den Rücken der eigenen Jeans-Jacke. "Punkrock kulinarisch" hieß es mit unseren selbst gemachten veganen Dönern. Dazu Coktails mit indonesischem Ginger-Beer - ein runder Abend!

Muslimische Punkrock-Nacht Getränke-Theke Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht Siebdruck bei der muslimischen Punkrock-Nacht


Schaufenster des Roten Buchladens, Mai 2016Schaufenster des Roten Buchladens


Der Buchladen Rote Straße hat ein Schaufenster gestaltet, das thematisch zu unserem Thema "anti-muslimischer Rassismus" und "muslimischer Feminismus" passt. Hier können Bücher angeguckt werden wie "Die unbekannte Mitte der Welt" von Tamim Ansary, "Wie ich Sheherazade tötete" von Joumana Haddad, "Sex und die Zitadelle" von Shereen el-Feki, "Warum hasst ihr uns so" von Mona Eltahawy und andere inspierierende Bücher. Wir bedanken uns bei Euch, lieber Buchladen!





Die Broschüre könnt Ihr bei uns bestellen oder links unten im Roten Buchladen abholen.

Hier könnt Ihr die Broschüre als pdf runterladen (1,8 MB).

 

A women’s voice is a voice of a revolution

Als Antifa eine neue antirassistische und feministische Praxis entwickeln


Broschüren-CoverDas Thema der Religion im Allgemeinen und des Islam im Speziellen ist zu relevant und wirkmächtig, um es länger zu ignorieren: es ist verwoben in Wechselverhältnissen zwischen anti-muslimischem und anti-arabischem Rassismus in Westeuropa und den USA; linken Kämpfen, die in Nordafrika und Westasien und damit in muslimischen Mehrheitsgesellschaften geführt werden und fundamentalistischen bis jihadistischen Ausprägungen des Islam.

Seit den jihadistischen Anschlägen von Al-Qaida auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA am 11. September 2001 wurde die Welt neu geordnet, so dass sich neue Polarisierungen entwickelt haben. Die starre Blockkonfrontation zwischen dem „kapitalistischen Westen“ und dem „sozialistischen Osten“ (der Sowjetunion) wurde durch eine Vervielfältigung der Konfliktherde abgelöst. Innerhalb dessen greifen wir in dieser Broschüre diejenigen Polarisierungen auf, die sich erstrecken zwischen fundamentalistischer islamischer Seite Westasiens, die gegen die „Dekadenz“ und „Unmoralität“ des Westens vorgehen will hin zu US-amerikanischer und westeuropäischer Seite, die daran vorbei mit völlig anders gelagerten Bezügen antwortet: mit Postulaten von „Freiheit“ und „Demokratie“, die auch in Westasien und Nordafrika gerade durch die „Zivilisation“ des Westens durch imperialistische Kriege wie dem Afghanistan-Krieg 2001, dem Irak-Krieg 2003 oder den gegenwärtigen mehr oder weniger direkten oder indirekten Kriegshandlungen in Westasien hergestellt werden müssten. Dass die dahinter stehenden Denksysteme überhaupt nicht begriffen und miteinander in Beziehung gesetzt werden, wird in den propagandistischen Verlautbarungen und medial gestützten Diskursen genauso wenig thematisiert wie die historischen Zusammenhänge, die die Grundlage für die gegenwärtigen Polarisierungen bilden: Die USA selbst haben die Taliban im Norden Af­ghanistans in den 1980er Jahren massiv unterstützt, damit letztere ihren Kampf gegen die Sowjetunion besser aufstellen konnten. Der französische und britische (Neo-)Kolonialismus sorgt in Nordafrika und Westasien bis heute für politische Destabilisierungen durch die ehemaligen Kolonialmächte. Die große Anzahl an migrantischen Menschen der sogenannten zweiten Generation, deren Eltern meist aus den ehemaligen Kolonien kommen, rebelliert seit Jahren in den Banlieus von Paris Perspektive für ein besseres Leben. Innerhalb der Polarisierungen, die von „westlicher Perspektive“ aus selbsterhöhend und rassistisch als „Demokratie“ (der „Westen“) vs. „Barbarei“ („der Islam“) gestaltet werden, fühlen sich auch (radikale) Linke unsicher oder gar angegriffen. Gerade durch die Anti-Deutschen wurde seit 2001 deutlich, dass ihre nun fehlende internationalistische, antirassistische und anti-imperialistische Orientierung zu undifferenzierten und unklaren Positionierungen bis hin zu einer Abkehr von linker Politik führte. Diese Strömung hat bis heute Auswirkungen darauf, dass linke Positionierungen oft undifferenziert und unklar bleiben. Wir wollen aus den Polarisierungen ausbrechen, differenzierte Sichtweisen entwickeln und aufeinander zugehen, indem wir innerhalb dieser Ordnungen und Dynamiken (strategische) BündnispartnerInnen suchen. Dies sind für uns unter anderem emanzipatorische Muslima und Muslime, die zwar von einer ganz anderen Perspektive aus, aber mit einem ähnlichen Ziel gegen anti-muslimischen Rassismus auf der einen und gegen fundamentalistische Muslime auf der anderen Seite kämpfen.  

„Islamischer Staat“ = Faschismus?  Über Begriffe und Konzepte
Der Weg zum positiven Bezug auf liberale und emanzipatorische Strömungen, die mit dem Islam aus religiöser oder nicht-religiöser Haltung heraus verbunden sind, verläuft auch für uns voller Widersprüche. Als uns als Antifa Anfang des Jahres 2015 die journalistische Anfrage von der Jungen Welt erreichte, ob der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) in unseren Augen als faschistisch zu beurteilen und zu benennen sei, machte sich bei uns zunächst Unbehagen breit. Solch eine Zuschreibung würde für uns eindeutig den deutschen Faschismus relativieren. Mit dieser abwehrenden Haltung fokussierten wir weniger das Durchdeklinieren von Definitionen, als dass wir generell in Frage stellten, ob eine Übertragung von Kategorien und Begriffen, die aus „westlichen“ Kontexten stammen, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Westasien überhaupt legitim ist. In unterschiedlichen Diskussionen begegnete uns allerdings, dass Teile der bundesdeutschen radikalen Linken und auch der kurdischen Exilstrukturen genau dies tun: den „IS“ als „Faschismus“ oder „Islam-Faschismus“ zu bezeichnen. Bei den deutschen Linken stört uns daran, dass solche Aussagen Sprachkenntnisse und Wissen und Erfahrungen über die lokalen kulturellen und politischen Zusammenhänge und Reflexionen innerarabischer Debatten vorgenommen werden; bei beiden Strömungen irritiert uns die Entkontextualisierung des Faschismus-Begriffs genau hier in Deutschland, der ja vor dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Faschismus auch ein  politischer Kampfbegriff von AntifaschistInnen ist. Der Verwendung des Begriffs des Faschismus für den „IS“ liegt eine eurozentrische Sichtweise zugrunde, da versucht wird, bekannte Interpretationsmuster aus der europäischen Geschichte auf andere Bezugssysteme zu transferieren. Würden wir den Begriff des Faschismus derartig entpolitisieren, würden wir damit auch unsere bisherigen Faschismusanalysen aushöhlen und unseren Antifaschismus unglaubwürdig machen. Einer Analyse des Phänomens „Islamischer Staat“ würden wir damit sicher nicht näher kommen.

Artikulations- und Handlungsunfähigkeit  der deutschen (radikalen) Linken
Die Auseinandersetzung mit dieser Frage, ob der „IS“ als faschistisch zu bezeichnen sei, löste bei uns in der Gruppe viele weitere Fragen aus, die uns vor allem die diesbezügliche Handlungsunfähigkeit bewusst werden ließen. Wie gehen wir als radikale Linke damit um, wenn sich Muslima und Muslime aus der BRD aufmachen, um sich in Syrien dem „IS“ anzuschließen? Wie können wir uns in Zeiten von Pegida und Co. dazu äußern, damit in die Rhetorik der Herrschenden einzufallen, die pauschal alle MuslimInnen als potenzielle TerroristInnen und als Frauenunterdücker ansehen und ausgrenzen? Wie müsste ein solidarisches Verhältnis zur kurdischen Bewegung aussehen, die in Westasien in Teilen selbst vom Islam besonders in Form des Alevitentums geprägt ist, und die gegen eine jihadistische Bewegung kämpft, die eine völlig andere Auslegung des Islam verfolgt? Fragen stellten wir uns auch zu anderen Themen: wieso hat es die radikale Linke in Deutschland nicht geschafft, sich zu den Revolten 2011/2012 in Nordafrika und Westasien („Arabischer Frühling“) zu verhalten – welche Distanzen und fehlenden Kenntnisse der komplexen lokalen Zusammenhänge hinderten uns daran? Als im Juli 2014 Israel eine Schule in Gaza bombardierte und in Göttingen daraufhin eine pro-palästinensische Kundgebung stattfand, mussten wir uns fragen, in welche Gemengelage von muslimischen bis jihadistischen Strömungen, die sich dort versammelten, wir uns begeben und an welchen Stellen unsere Solidarität an ihre Grenzen stößt. Derzeit ist „refugees welcome“ in aller Munde. Die große Anzahl an Geflüchteten in unserem Lebensumfeld ruft bei uns neue Herausforderungen hervor. Der Großteil von ihnen kommt aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften und viele von ihnen fühlen sich selbst dem Islam zugehörig. Die Wichtigkeit derer religiöser Identifizierungen wird zwangsläufig etwas bei uns verändern. Wie wollen wir gleichberechtigt mit ihnen umgehen, wenn wir uns bisher zu wenig damit auseinandersetzen, welche Konfliktlinien ihre religiösen und kulturellen Kontexte durchziehen? Wir können den Islam auch nicht in unserer Positionierung gegen imperialistische Kriege ausblenden, die seit dem 11.09.2001 gegen Staaten mit muslimischen Mehrheitsgesellschaften immer auch im Namen von „Frauenrechten“ geführt werden. Welche sind eigentlich die feministischen Kämpfe, die Muslima selbst führen?

Unser Mangel an fundierten und differenzierten Antworten auf diese Fragen spielt nicht zuletzt dem „IS“ in die Hände. In dieser vorliegenden inhaltlichen Publikation legen wir unsere Auseinandersetzungen mit den gesellschaftspolitischen Dynamiken um anti-muslimischen Rassismus und antirassistischen feministischen Praxen und damit verknüpften Bezügen zur Religion des Islam dar. In diesem Sinne interessiert uns weniger „der Islam“ als Religion als die Verwobenheit dieser Religion mit anderen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Uns ist bewusst, dass dies ein kritisches Feld darstellt. Wir wollen damit dennoch die Orientierungslosigkeit, Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit der bundesdeutschen radikalen Linken in Bezug auf das allseits präsente und wirkmächtige Thema „Islam“, „politisierter Islam“ und „Jihadismus“ angehen und die Diskussion für dieses neue politische Handlungsfeld als Antifa eröffnen.  

Warum die Auseinandersetzung mit „Islam“, wenn es doch um anti-muslimischen Rassismus geht?
Ein fundamentalistischer oder ein politisierter Islam, der für Herrschaftszwecke genutzt wird, stellt für uns kein emanzipatorisches Projekt dar. Positive Bezugnahmen auf Religion generell rufen auch bei uns erst einmal Ablehnung oder aber deutliche Fragezeichen hervor. So sind auch die Diskussionen in unserer Gruppe zu den Themenkomplexen dieser Broschüre nicht reibungslos verlaufen. Wir müssen ehrlich anmerken, dass die Ausrichtung dieser Broschüre keinen Gruppenkonsens darstellt. Zu viele Fragen bleiben mit unterschiedlichen Gruppenstandpunkten stehen: Was heißt es mit Bewegungen solidarisch zu sein, die einen religiösen Hintergrund haben? Sind muslimisch-feministische Bewegungen für uns in erster Linie deshalb interessant, weil sie muslimisch oder weil sie feministisch sind? Wir sprechen aus einer grundsätzlich religionskritischen Perspektive heraus. Religion als Herrschaftsverhältnis abzulehnen begreifen wir als elementaren Bestandteil linksradikaler Politik. Wie können wir innerhalb der anti-muslimischen Debatten einen eigenen Standpunkt gegen Religion deutlich machen, wenn wir gegen anti-muslimischen Rassismus vorgehen, und gleichzeitig solidarisch mit Muslima und Muslimen sein? Können wir „linke (marxistische) Religionskritik“, die sich gegen das Christentum gerichtet hat, genauso auf den Islam anwenden? Kann Religionskritik, die sich in Verschränkung mit Kapitalismuskritik entwickelt hat, auf „den Islam“ übertragen werden? Wir möchten die verschiedenen Standpunkte zu den offenen Fragen lieber nebeneinander kritisch-konstruktiv stehen lassen, als mit Hilfe von Oberflächlichkeiten einen verwässerten Konsens herzustellen. Tatsächlich haben wir einen Text zu „linker Religionskritik“ aus verschiedenen Unstimmigkeiten aus dieser Broschüre wieder heraus genommen. Ein Punkt, weshalb wir oft nicht zusammengekommen sind, ist der unterschiedliche theoretische Zugang zum Religionsbegriff. Während manche von einem eher essentialistischen Religionsbegriff ausgehen, der vom Wesen der Religion her argumentiert, haben andere einen pluraleren Zugang zu Religion, der diese eher als kulturelles Merkmal begreift, das in erster Linie mit anderen Differenzsystemen verwoben ist. Ob wir es gut finden oder schlecht – die Auseinandersetzung und der Bezug auf emanzipatorische Kräfte in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die ihre Kämpfe entweder mit dem Islam begründen oder vom Islam beeinflusst sind, erscheint uns aus vier Gründen notwendig:

1) Die anti-muslimischen rassistischen Diskurse und Debatten zielen sowohl auf Muslima und Muslime wie auch auf Menschen, die als Muslima und Muslime klassifiziert werden. Auch wenn nicht nur Muslima und Muslime von diesem Rassismus betroffen sind, so bleibt doch der Islam der symbolische Punkt der Verhandlung und bedarf deswegen einer Auseinandersetzung. Durch undifferenzierte Zuschreibungen werden Muslima und Muslime und solche Menschen, die dafür gehalten werden, pauschal als „rückständig“ entworfen und von ihnen wird erwartet, dass sie sich per se für den „islamischen Terrorismus“ rechtfertigen. Die unterschiedlichen Facetten von Islam-Interpretationen, politischen Einstellungen und alltäglichen Lebenspraxen werden dabei nicht gehört oder repräsentiert. Säkulare feministische Kämpfe werden gar nicht erst wahrgenommen oder als Rückversicherung für die „Rückständigkeit“ des Islams genutzt. In muslimischen Mehrheitsgesellschaften beziehen sich teilweise auch solche säkularen Feministinnen auf den Islam. In Gesprächen, die wir mit AtheistInnen aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften geführt haben, haben wir ihre strategischen Bezüge auf den Islam kennengelernt, um in diesen Gesellschaften überhaupt Gehör zu finden. Dieselben AktivistInnen berichteten uns von strategischen Bezugnahmen auf eine Identität als „Muslim/a“ in Deutschland, um innerhalb der anti-muslimischen Debatten selbstbewusst gegen die pauschalisierenden Anti-Haltungen dem Islam gegenüber etwas entgegenzusetzen. Daran wird deutlich, wie der anti-muslimische Rassismus auch die Menschen berührt, die keine Muslima oder Muslime sind, denen es aber zugeschrieben wird. Genau diese Zuschreibungen sind genauso Teil des anti-muslimischen Rassismus‘.

Nicht nur in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die Diskussionen in der bundesdeutschen Linken werden meist fernab von Kenntnissen über den Islam mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen und von politischen lokalen Realitäten geführt. Indem wir uns sowohl mit den unterschiedlichen Strömungen im Islam wie auch mit den (sehr wenigen) säkularen Kämpfen in muslimischen Mehrheitsgesellschaften auseinandersetzen, wollen wir das symbolische, aufgeladene, stereotype Bild „des Islams“ aufbrechen, dem auch diejenigen ausgesetzt sind, die als Muslima und Muslime klassifiziert werden. Dieses Aufbrechen macht etwas mit dem Rassismus, der auf den symbolisch aufgeladenen Islam rekurriert.

Darüber hinaus liegt uns 2) in diesen rassistischen, ausschließenden Dynamiken daran, die emanzipatorischen Muslima und Muslime einzuschließen. Dadurch wollen wir nicht nur den Ausschlüssen etwas entgegensetzen sondern auch mehr Diversität in die Kämpfe bringen, die wir führen.

3) Der Jihadismus mit seiner ultra-orthodoxen und antifeministischen Ideologie und seinen praktischen Umsetzungen dessen durch Massaker und dem Verbreiten von Terror stellt eine reale Gefahr dar. Wir sind auf der Suche nach Verbündeten gegen diese ideologische Strömung des Islams. Verbündete sehen wir in säkularen und muslimischen feministischen Kräften. Uns liegt auch als nicht-religiöse AktivistInnen daran, uns nicht nur auf die säkularen Feministinnen in muslimischen Kontexten zu beziehen. Denn wir würden uns sonst in eine postkoloniale Linie einreihen: seit dem Kolonialismus wird in paternalistischer Manier die „Fort-“ oder „Rückschrittlichkeit“ des Islams an Sexualität und dem Umgang mit weiblichen Körpern gemessen. Dies ist auch heute noch so. Es gibt genug säkulare, wohlgemerkt konservative, Feministinnen aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften wie Necla Kelek aus der Türkei, die in Deutschland bspw. gegen das Kopftuch eintreten und argumentieren, die muslimischen Frauen müssten von ihrer Religion „befreit“ werden. In der BRD werden genau solche Positionen für „Integrationspolitik“ oder zur Legitimierung imperialistischer Kriege zur „Frauenbefreiung“ vor den Karren der herrschenden Politik gespannt. In diese Argumentation, dass „wir“ Muslima von ihrer Religion befreien müssten, werden wir uns nicht einreihen und beziehen uns deshalb auch auf die muslimischen emanzipatorischen Kräfte.

4) An Muslima und Muslime stellen die fundamentalistischen und jihadistischen Bewegungen ganz eigene Herausforderungen, da sich zwar alle auf Gottes Wort im Qur’an und den Lebenspraktiken des Propheten Mohamad, so wie sie in den Hadithen festgehalten sind, beziehen. Aber die Auslegungen und Interpretationen dessen gehen teilweise diametral auseinander. Seit den letzten 30 Jahren sind es in erster Linie Muslima und Muslime selbst, die unter Fundamentalismus und Jihadismus leiden. Uns liegt daran kennen zu lernen, wie emanzipatorische Muslima und Muslime aus ihren Perspektiven und Interpretationen heraus mit diesen Herausforderungen umgehen und wie sie die innermuslimischen, teils politisch aufgeladenen, Dynamiken einschätzen. Wir können nur gemeinsam mit emanzipatorischen Muslima und Muslimen agieren, wenn wir die Kämpfe innerhalb des Islams kennen lernen und in Erfahrung bringen, was emanzipatorische Muslima und Muslime selbst an bestimmten Ausprägungen des Islams kritisieren bzw. welche Rolle der Islam überhaupt in ihren Kämpfen spielt. Gerade innerhalb der anti-muslimischen Diskurse und Debatten, die „den Islam“ als „rückständig“ und „frauenverachtend“ darstellen, interessieren uns die feministischen Kämpfe in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die meist muslimisch begründet sind.  
Wenn wir aus aufrichtigem Interesse heraus eine gemeinsame Auseinandersetzung mit emanzipatorischen Muslima und Muslimen führen wollen und gemeinsame Kämpfe entwickeln wollen und dabei uns selbst und unsere MitkämpferInnen ernst nehmen, dann wird es aus unserer Perspektive als Antifa dazugehören, die Religiosität unserer muslimischen MitkämpferInnen auch zur Diskussion zu stellen. Denn so viel uns auch einen wird, gibt es dennoch Gründe, warum wir ein politisches – hier speziell: feministisches – Herangehen als AntifaschistInnen entwickelt haben und warum muslimische FeministInnen ihre Ansätze gewählt haben.

Dennoch: Mit den vier Herangehensweisen geht es uns darum, eine neue Form von Antirassismus zu entwickeln, in der wir auf der einen Seite als weiße, deutsche Linke den anti-muslimischen Rassismus angehen wollen, der elementarer Teil unserer Gesellschaft ist und somit mit uns zu tun hat. Zum anderen wollen wir die dazugehörige Praxis gemeinsam mit emanzipatorischen Muslima und Muslimen entwickeln, die sowohl diesem Rassismus ausgesetzt sind als auch den Terror von fundamentalistischen Muslimen zu bekämpfen versuchen, der wiederum auch die Gesellschaften in Westeuropa bedroht.

Als AntifaschistInnen mit klarer internationalistischer Positionierung beziehen wir uns seit jeher auf unterschiedliche emanzipatorische Kräfte und Bewegungen in der Welt. Dabei sind die Gegebenheiten immer widersprüchlich und verwoben mit anderen Machtverhältnissen, Kategorien und Hierarchien. So ist für uns die zapatistische Bewegung in Mexiko ein positiver Bezugspunkt, auch wenn wir im Speziellen deren biologistisches Geschlechterverständnis nicht teilen können. Die christliche Befreiungstheologie der 1970er Jahre, die sich im Zuge der sozialistischen (Befreiungs-)Bewegungen in Lateinamerika entwickelt hatte, wurde schon damals als Teil der Solidaritätsbewegung angesehen und ist für uns bis heute ein positives Beispiel von internationaler Solidarität. Konzepte von islamischem Sozialismus, wie sie z.B. in den 1960er Jahren in Ägypten und Indonesien ausprobiert wurden, sind für uns erst mal genauso interessant wie die Verbindungen von antikolonialen Kämpfen und Islam, wie sie in (fast) allen ehemaligen Kolonien mit muslimischer Mehrheitsgesellschaft geführt wurden. Auch gegenwärtig begründen Teile der antikapitalistischen Linken, wie z.B. ein Teil der Gezi-Park-Proteste 2013 in Istanbul, ihre Argumente mit dem Islam. Auch mit den vielfältigen widersprüchlichen Bezügen steht für uns eine grundsätzlich positive, solidarische Haltung im Vordergrund.  

Die Wege zum Islam sind (nicht) unergründlich… ...
Wie erarbeiten wir uns nun das politisch aufgeladene Feld des anti-muslimischen Rassismus, verbunden mit „dem Islam“, der in kulturelle und gesellschaftspolitische Dynamiken eingebettet ist, unter Einbezug von Menschen mit muslimischem Hintergrund? In der Vergangenheit haben uns Erfahrungen aus unserer politischen Praxis diesbezüglich erst einmal an Grenzen gestoßen. 2008 erarbeiteten wir uns in der Broschüre „fight sexism & racism!“ Standpunkte zu den Zusammenhängen zwischen Rassismus und Patriarchat. Dieses Projekt endete unter anderem mit einer Ratlosigkeit die daher rührte, dass wir in der Erstellung der Broschüren-Artikel vor allem über MigrantInnen, aber nicht mit ihnen redeten. 2012 organisierten wir aus Anlass eines rassistischen Übergriffs auf einen migrantischen Taxi-Fahrer in Göttingen eine antirassistische Demonstration. Eine erfreuliche Besonderheit dieser Demo war, dass auch Muslima, teils mit Kopftuch als solche zu erkennen, teils , in der Demo mitgelaufen sind. Mit der Parole „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!“, die erst einmal eine legitime Religionskritik darstellt, wurden genau diese Muslima durch ignorante deutsche Linke von der Demo vertrieben, indem sie die Parole durch Blickkontakt direkt gegen sie richteten. Eine angefangene schriftliche Diskussion dazu in der Göttinger Szene-Zeitung seitens dieser Muslima wurde von der Göttinger linken Szene weitgehend unkommentiert gelassen. 2013 organisierten wir eine antifaschistische Veranstaltungsreihe mit Demonstration gegen die Verhältnisse, die den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ („NSU“) in den 1990/2000er Jahren rassistische Morde in der BRD haben verüben lassen. Im Laufe dieses Projekts hatten wir die Erkenntnis, dass wir die Felder Antifaschismus und Antirassismus viel stärker zusammen bearbeiten müssen. Ebenfalls 2013 kündigte die rechte Initiative „Pro Deutschland“ an, in Göttingen vor den muslimischen Gebetsräumen rassistische Kundgebungen abzuhalten. Als Antifa suchten wir im Vorfeld die entsprechenden muslimischen Gemeinden auf, um solidarisch mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Diese Kontaktaufnahmen führten zu keinem weiteren Austausch, da wir zu unbedarft waren und nicht das richtige Format der Kontaktaufnahme gefunden haben und die muslimischen, eher konservativen, Gemeinden vermutlich mit einem Gespräch mit „der Antifa“ nicht viel anfangen konnten.

An diese vielfältigen Erfahrungen, die uns immer wieder ratlos an Grenzen stießen, knüpfen wir seit Anfang 2015 direkt an und haben die Art und Weise der Auseinandersetzung verändert. Wir erarbeiteten uns über mehrere Monate hinweg die Geschichte des Islams auf Grundlage von Literatur. Wir recherchieren in verschiedensten Medien zu inner-muslimischen politischen, vor allem feministischen, Diskussionen. Und wir führen nun regelmäßig Gespräche in Göttingen mit Muslima und Muslimen sowie mit Menschen aus muslimischen Familien oder aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die liberal oder explizit links sind. Unsere Gespräche leiteten wir immer mit generellen Fragen wie nach der Rolle des Islams in ihrem Alltag und für ihr politisches Verständnis ein. Da wir die Bezeichnung des „IS“ als faschistisch auf Grund von Eurozentrismus ablehnen, interessierte uns in den Gesprächen auch vor allem deren Sicht- und Deutungsweise auf den „IS“. Und wir fragten immer nach der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen im Islam. Eine muslimische, linke Transfrau erzählte uns von ihren innerfamiliären Konflikten auf Grund des queeren Lebensstils, wobei sie keinerlei Konflikte mit ihrer Religion dabei sieht. Eine linke, deutsche Konvertitin berichtete vom widerständigen Gehalt des Islams und dem Einklang zwischen Links-Sein und Muslima-Sein – und dennoch verschweige sie ihre Identität als Muslima, da sie in linken Zusammenhängen diesbezüglich nur Anfeindungen kennt. Allen muslimischen GesprächspartnerInnen war gemein, dass sie freudig überrascht über unser aufrichtiges Interesse waren, das sich auf die persönliche Bedeutung des Islam für sie bezog. Im Laufe der Gespräche wurde immer deutlicher, dass dieses Format der Gespräche auch innerhalb der Linken ein Statement an sich ausmacht. Von unserer Seite aus wurden die Gespräche ausschließlich von Frauen geführt und mit einer Ausnahme waren auch die Gesprächspartnerinnen Frauen oder eine Transfrau. Das Aufeinanderzugehen in einer anti-muslimisch durchsetzten Gesellschaft von Frauen auf migrantische; migrantisch-muslimische; muslimisch-deutsche oder aus muslimischen Mehrheitsgesellschaft stammenden Frauen, die nicht religiös sind aber denen Muslimisch-Sein zugeschrieben wird, ist eine Notwendigkeit und sollte Grundlage von linksradikaler Politik sein. Für uns waren solche Gespräche etwas Neues. In anderen Städten wie in Berlin gibt es allerdings schon seit Monaten eine gemeinsame linksradikale Organisierung mit refugees, von denen auch viele aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften kommen. Es ist für uns ein Mangel, dass wir nicht viel früher auf die unterschiedlichen Menschen zugegangen sind, die aus ihren religiösen oder eben nicht-religiösen Haltungen ganz verschiedene und eigene Zugänge zum Islam haben. Die Bedeutsamkeit dieser Praxis zeigte sich in der sehr emotionalen und intimen Ausgestaltung der Gespräche seitens unserer Gesprächspartnerinnen, obwohl wir uns bis dato oft gar nicht gekannt haben.

Die Erkenntnisse aus diesen sehr unterschiedlichen Gesprächen, aus dem Wälzen von Literatur und den Internetrecherchen aber auch eigene, mehrwöchige und -monatige Erfahrungen in muslimischen, außereuropäischen Mehrheitsgesellschaften bilden die Grundlage des Beginns unseres Prozesses der Auseinandersetzung und unseren ersten entwickelten Positionierungen. Genauso wollen wir diese Broschüre verstanden wissen: sie soll den Beginn einer Diskussion darstellen, kein bereits fertiges oder abgeschlossenes Statement. Wir sind insofern auch sehr an Feedback aus verschiedensten Perspektiven zu dieser Broschüre interessiert.

In diesem Sinne: Erkennen wir die besondere Form des anti-muslimischen Rassismus endlich an und beginnen eine antirassistische und feministische Praxis gemeinsam mit emanzipatorischen Muslima und Muslimen und mit säkularen Kräften, die genauso von anti-muslimischem Rassismus betroffen sind!

 

Anti-muslimischer Rassismus und Jihadismus: Zusammenhänge

Heutige politische Auseinandersetzungen um „den Islam“ in Westasien und Nordafrika, aber auch in Europa sind nur vor dem Hintergrund einer langen Kolonialgeschichte und den damit einhergehenden Verbrechen, Unterdrückungen und Macht- und Identitätskämpfen zu verstehen. Daraus hat sich ein bis heute wirksames bipolares Gespann herausgebildet, das auf der einen Seite aus imperialen, rassistischen, paternalistisch pseudofeministischen Akteuren besteht und auf der anderen Seite aus einem Islam, der sich  antikolonial inszeniert und politisch aufgeladen ist. In diesen dominanten Kämpfen gegeneinander wird es politisch immer schwieriger eine emanzipatorische Position sichtbar zu machen, die sowohl Sexismus als auch Rassismus bekämpft. Vor dem Hintergrund der historischen Auseinandersetzung wird deutlicher, warum auch wir als radikale Linke in Deutschland unsere Abwehrhaltung gegen „alles, was mit dem Islam zu tun hat“, dringend ablegen müssen.

Anti-muslimischer Rassismus: Kulturalisierung & Entpolitisierung gesellschaftlicher Verhältnisse
Rassistische BürgerInen laufen wöchentlich gemeinsam mit organisierten Neonazis durch die Straßen und streuen ihren Hass auf alles, was vermeintlich nicht einer „weißen“, abendländischen Kultur angehöre. Medien wie der Spiegel hetzen unter dem Stichwort der „Islamisierung“ mit. Laut bürgerlichen, selbsternannten Feministinnen wie Alice Schwarzer sollten Frauenrechte durch schärfere Asylgesetze und schärfere Einbürgerungstests „geschützt“ werden. Der deutsche Staat schützt seine BürgerInnen durch imperiale Kriege und immer weiter zunehmende Überwachsungsapparate vor der selbst geschaffenen und inszenierten sogenannten islamistischen Gefahr.
Anti-muslimischer Rassismus als reibungslos funktionierendes Bindeglied zwischen Neonazis, Rechten, Konservativen und der sogenannten bürgerlichen Mitte ist in vielen politischen Auseinandersetzungen präsent und sichert die derzeitigen Herrschaftsverhältnisse ab: Durch den Verweis auf die vermeintliche kulturelle Andersartigkeit und vermeintliche Gefahr durch den Islam werden imperiale, sexistische und rassistische Politiken und Strukturen legitimiert und gefordert; z.B. Asylgesetze, Abschiebungen, Kriege und Integrationskurse. Auch innerhalb der Linken ist anti-muslimischer Rassismus weit verbreitet, insbesondere im antideutschen Spektrum, das gerne alle Muslima und Muslime pauschal als AntisemitInnen darstellt. Anti-muslimischer Rassismus ist eine Form des kulturellen Rassismus: Statt durch Biologie  vorbestimmt sei der Mensch durch seine „homogene“ und fixiert gedachte Kultur bestimmt. In dieser Logik steht der Islam dem christlich, oder manchmal christlich-jüdisch, inszenierten Abendland gegenüber. Dieser anti-muslimische Rassismus ist durch aktuelle imperiale Politiken und historische bis heute wirkende koloniale Traditionen eng verknüpft mit anti-arabischem Rassismus. Dennoch werden die Stereotype aus dem anti-arabischen Rassismus zunehmend auch auf Muslima und Muslime aus anderen Kontexten angewendet. Der Verweis auf eine christlich-jüdische Tradition dient dabei der Immunisierung gegen Antisemitismusvorwürfe und der geschichtsrevisionistischen Umdeutung der eigenen Geschichte weg von eigener deutscher Schuld hin zur „muslimischen Gefahr“. Problematiken und Hierarchien in der Gesellschaft werden durch den anti-muslimischen Rassismus nicht als Folge von rassistischer oder sexistischer Unterdrückung begriffen, sondern kulturalisiert, entpolitisiert und damit die dahinter stehende Herrschaft gefestigt. Wenn Menschen auf der Straße nach Geld fragen, dann liegt das nicht an kulturellen Eigenschaften, sondern an einer kapitalistischen Gesellschaft, die, verschränkt mit Rassismus und Sexismus, MigrantInnen und insbesondere migrantischen Frauen systematisch den Zugang zur gleichberechtigten Teilhabe versperrt. Wenn ein Mann eine Frau sexuell belästigt, dann ist er ein sexistisches Arschloch, egal ob Christ, Muslim oder deutscher Ehemann. Ist der Täter aber ein Migrant oder gar Muslim, halten kulturalistische Deutungen her die verschweigen, dass die meisten Frauen in Deutschland von deutschen Ehemännern vergewaltigt und misshandelt werden. Plötzlich schwingen sich die Antifeministen der CDU oder der AfD auf, die deutsche Frau vor den Muslimen retten zu müssen. Dabei waschen sie sich selbst von patri­archalem Verhalten rein und instrumentalisieren berechtigte feministische Anliegen für ihre rassistischen Politiken. Weiter noch soll durch die Auslagerung des Sexismus auf Migranten und der damit verbundenen Legitimierung der eigenen Übergriffigkeit der Besitzanspruch der deutschen Männer an den deutschen Frauen geltend gemacht werden. In diesem Kontext ist auch die Instrumentalisierung der sexistischen Übergriffe in der Sylvesternacht 2015/16 in Köln zu werten. In den Medien wird aufgebauscht, wie migrantisch aussehende junge Männer Frauen mit sexualisierter Gewalt überziehen. Anstatt  konsequent diese Gewalt zu thematisieren, wird Sexismus einzig und allein auf Migranten abgewälzt und die eigene Fortschrittlichkeit betont. Kommt es zu Gewalt gegen Frauen in muslimischen oder migrantischen Familien wird oft nicht mit thematisiert, dass rassistische Migrationsgesetze in Deutschland lebenden Frauen deutschem Pass eine Trennung oder Scheidung erschweren, da aufenthaltsrechliche Schwierigkeiten damit einhergehen. Anstatt die politischen Kontexte und Politiken zu kritisieren, muss „die muslimische Kultur“ herhalten. Frauen werden dadurch nicht ermächtigt, sondern rassistische Politiken unter dem Deckmantel des Feminismus weiter voran getrieben.   

Der Frauenkörper als Verhandlungspunkt von Identität und Fortschrittlichkeit
Der anti-muslimische Rassismus, sicherlich seit 9/11 besonders präsent, kann auf eine sehr alte Geschichte zurückgreifen, die vielen heutigen muslimischen Frauen oder Frauen aus muslimischen Kontexten ihren eigenen feministischen Kampf erschwert. Wir müssen diese Konstellationen verstehen, da sie bis heute wirksam sind und politische Kämpfe prägen. Nur wenn wir diese Kämpfe und Verortungen von Frauen aus muslimischen Kontexten verstehen, können wir eine sinnvolle solidarische gemeinsame Perspektive und Praxis entwickeln.
Seit den kolonialen Eroberungsfeldzügen der verschiedenen europäischen Staaten im 19. Jahrhundert  dient die Abgrenzung von Orient und Okzident der Selbstvergewisserung der eigenen Fortschrittlichkeit und Überlegenheit, die wiederum Unterdrückung und Ausbeutung legitimiert. Anhand der Freizügigkeit, Homophilie und sexuellen Potenz wurde eine muslimische, orientalische Kultur herbei fantasiert, die der eigenen Kultur entgegenstehe und die man mit Gewalt bezwingen und zivilisieren müsse, so dass Ressourcen und Gelder in die eigenen Länder fließen konnten und können. Jene kulturalistische Aufladung und Abgrenzung von Orient und Okzident wurde und wird noch heute insbesondere an sexueller Freizügigkeit und der Rolle der Frau festgemacht, die als Gradmesser für Zivilisation galten und noch immer gelten. So propagierten vor allem Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Umerziehung der Frauen in den Kolonien. Es gründeten sich zahlreiche Frauenverbände, z.B. der „Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft“, die Frauen in die Kolonien entsandten, um dort zu missionieren und zu erziehen.

Sexualisierte Haremsfantasien entwarfen das Bild einer passiven, unterdrückten, verfügbaren orientalischen Frau, die sich in der Öffentlichkeit verschleiert, in dessen Gegenlicht westliche Frauen emanzipiert erscheinen sollten. So sollte der feministische Kampf im Westen befriedet werden und gleichzeitig in einen pseudofeministischen Paternalismus gegen arabische, kolonialisierte Frauen umgeschrieben werden. Die Kolonialmacht England begann Ende des 19. Jahrhunderts mit Lord Cromer den hijab (das Kopftuch) als Beweis für die Rückständigkeit des Islams hoch zu stilisieren. Seitdem tobt die Debatte um die Entschleierung der Frau in ganz Europa fort. Diese Forderung nach Entschleierung steht in der Tradition der Aufklärung, in der zur Maßgabe erhoben wurde, dass sich nichts dem männlichen, objektiven, rationalen Blick der Wissenschaft entziehen dürfe. Frankreichs Militär verschleppte 1958 Frauen aus algerischen Dörfern in die Städte und zwang sie dort auf einer Bühne zur öffentlichen Entschleierung, was als Akt der Befreiung und Demonstration der eigenen kulturellen Überlegenheit gefeiert wurde. Lord Cromer, in England ein Aktiver gegen das Frauenwahlrecht, setzte zeitgleich zur propagierten „Befreiung durch Entschleierung“ durch, dass Frauen in Ägypten keine Ärztinnen mehr, sondern „gemäß ihrer Natur“ nur noch Krankenschwestern werden durften. 1939 wurde eine Resolution verabschiedet, die britischen Frauen das Recht auf Berufstätigkeit sowohl in den Heimatländern als auch in den Kolonien gewährte, was dazu führte, dass viele ägyptische Lehrerinnen ihren Job und die damit einhergehende Selbstständigkeit an die Britinnen verloren.

Während anfangs Freizügigkeit und Homophilie in für romantisierende Bewunderung aber auch als zivilisatorische Abgrenzung für die Bestätigung der bürgerlichen Ordnung – bestehend aus Monogamie und eindeutigen Geschlechterrollen – diente, haben sich diese entgegengesetzten Zuschreibungen heute ironischerweise umgedreht: Heute werden „westliche“ Frauenkörper immer mehr einer öffentlichen (Schönheits-)Normierung und Zur-Schau-Stellung unterworfen. Am Frauenkörper und der Rolle der Frau wurden aber damals wie heute Zuschreibungen von Fortschrittlichkeit, Überlegenheit und Zivilisation verhandelt. Dabei ging und geht es nicht um tatsächliche Emanzipation der Frau, sondern um Instrumentalisierung der Frauenrechte für die eigenen Ziele der fortschreitenden Machtausübung, wobei es „westlichen, weißen“ Frauen teilweise möglich wurde auf Kosten der kolonialisierten Frauen an der Herrschaft teilzuhaben und die eigene Stellung zu verbessern.

Die kolonialen Feldzüge des Westens, insbesondere Frankreichs und Großbritanniens, beeinflussten auch die Politiken in den arabischen Ländern. Die Frage, wie zu eigener Stärke zurück zu finden sei, brachte verschiedene politische Strömungen von Nationalisten über Reformer bis hin zu islamischen Modernisierern hervor. Reformer versuchten die Frage, warum der Westen in der Lage war die arabische Welt so zu dominieren, damit zu beantworten, dass nur eine Annäherung an den Westen Abhilfe schaffen würde. Dies sollte eine Angleichung von Politik, Gesetzen, Bildung und Lebensstil beinhalten, wie z.B. von Kemal Atatürk in der Türkei oder Reza Schah Pahlavi im Iran Anfang des 20. Jahrhunderts umgesetzt.

Das Sykes-Picot Abkommen von 1916, das das alte Osmanische Reich nach den Interessen von Frankreich und Großbritannien eingeteilt hat, gilt als Startpunkt für muslimische Reformbewegungen, durch die der Islam zum politischen Konzept wird. In dieser Tradition versteht sich der „IS“ heute; vor dieser kolonialen Historie ist der „IS“ zu verstehen. Islamische Reformer diskutierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Anpassung des Islams an die Moderne, aus der die bis heute wirkende Kontroverse um die Anpassung der Lehre des Islams an heutige Verhältnisse und Gegebenheiten oder die Rückbesinnung auf damalige Lebensweisen und -Grundsätze hervorgeht. Zentraler Verhandlungspunkt ist auch hier die Rolle der Frau, entweder als Bewahrerin der Kultur oder als Gradmesser der Modernisierung. Erste feministische Bewegungen in den verschiedenen arabischen Ländern, wie z.B. die 1923 gegründete ägyptische Feministinnen-Union, argumentieren mit der vermeintlich freieren Rolle der Frau in Europa, um Reformen im eigenen Land zu bewirken.

Spätere Feministinnen und antikoloniale, anti-imperiale Befreiungsbewegungen kritisierten aber genau diese Kollaboration mit den westlichen Kolonialmächten. So kritisierte z.B. auch der algerische anti-koloniale Befreiungskämpfer Frantz Fanon die Entschleierung als Selbstverleugnung und Teil einer „Vergewaltigung durch die Kolonisatoren“. Andere Frauen in Algier konnten ihr westliches Aussehen im antikolonialen Befreiungskampf nutzen, um in ihren Handtaschen Waffen für den Widerstand an den Grenzposten vorbei zu schmuggeln.  
Aber auch islamische Traditionalisten und Konservative können die antiimperialen und antikolonialen Argumentationen für sich nutzbar machen. So wurde beispielsweise im Iran die Revolution von 1979 von den linken, religiösen Mujaheddin und den marxistischen Fedayan vorbereitet und getragen, letztendlich konnten aber die religiösen Fundamentalisten die Revolution für sich vereinnahmen und den linken Anti-imperialismus in ihren eigenen „islamischen Anti-imperialismus“ ummüntzen. Dabei wurde Ruholla Chomeni, der vorher in Frankreich im Exil war, schnell von den westlichen Staaten als neuer Staatschef aufgebaut, um nicht kommunistische Kräfte gewinnen zu lassen. Ähnlich wurden auch in Afghanistan in den 1980er Jahren muslimische Fundamentalisten gegen die Sowjetunion unterstützt. Der Versuch, den imperialen Einfluss auch über die islamischen Partner aufrecht zu erhalten, scheiterte.

So werden unter anderem in Afghanistan Frauenrechte heutzutage wieder zur Legitimierung eigener imperialer Kriege zur Sicherung von Macht und Ressourcen instrumentalisiert. Die Rolle der Frau wird von der einen Seite als Bewahrerin der eigenen Kultur gegen den Westen stilisiert. Von den westlichen imperialistischen AkteurInnen wiederum werden Frauenrechte jenseits von feministischer Emanzipation für die Legitimation von Herrschaft instrumentalisiert. Die Frauenrolle ist so über die koloniale Kon­stellation zum Verhandlungspunkt von Souveränität, Unabhängigkeit beziehungsweise Unterdrückung und Herrschaft geworden. Das islamische Familienrecht, das Verhandlungspunkt gegenwärtiger feministischer Organisationen ist, ist auch nach dem Kolonialismus in vielen Staaten in die jeweiligen Gesetze eingeflossen. Feministinnen war es im antikolonialen Befreiungskampf (z.B. in Algerien) nicht möglich, islamisches Familienrecht zu kritisieren, da dies eine Spaltung der Bewegung bedeutet hätte.

Gerade diese identitäre Aufladung der Frauenrolle als Austragungs- und Abgrenzungsort zwischen Orient und Okzident beziehungsweise zwischen christlich-jüdischem Abendland und „dem Islam“ erschwert vielen Frauen ihren Kampf um Emanzipation.  
Es erschwert den feministischen Kampf in Europa, weil sich durch die Auslagerung des Patriarchats auf die Muslime von Kritik an eigenen patriarchalen Strukturen reingewaschen wird. Es erschwert feministische Kämpfe für Frauen aus muslimischen Kontexten, weil diese ihren Kampf für Emanzipation nicht nur gegen Sexismus führen, sondern auch gegen Imperialismus, paternalistisch-pseudofeministische Bevormundung und gegen islamische Traditionalisten. Ihre Schwierigkeit liegt darin, sich in der Auseinandersetzung zwischen PseudofeministInnen und islamischen Traditionalisten als alternative Stimme Gehör und politisches Gewicht zu verschaffen – dabei von der einen Seite vereinnahmt oder  als zu der anderen Seite zugehörig diffamiert zu werden.

Eine Positionierung zwischen diesen beiden AkteurInnen-Gruppen stellt der muslimische Feminismus dar, der für Frauenrechte und Frauenemanzipation aus dem Qur‘an heraus argumentiert. Aber auch säkulare Feministinnen wie Nawal Al Sadawi in Ägypten oder Fatma Mernissi in Marokko begründen Gleichberechtigung mit dem Islam. Dennoch werden beide immer wieder als Agentinnen des Westens diffamiert und mit dem Tod bedroht.

Vor diesem imperialen Hintergrund ist eine ernstgemeinte Solidarisierung mit feministischen Kämpfen in arabischen Kontexten unmöglich, solange sie nicht ebenfalls bereit ist sich entgegen der kolonialistischen Tradition jenseits der Abgrenzung vom Islam zu bewegen.

Antimuslimischer Rassismus und Jihadismus in Deutschland und Europa

Wie schon die Legitimation von Kriegspolitiken zeigt, spielt die identitäre Aufladung der Frauenrolle als Verhandlungspunkt zwischen jüdisch-christlich inszeniertem Abendland und dem Islam als Gegensatz auch in Europa bis heute eine zentrale Rolle. Bei diesen identitären Aushandlungen geht es zentral auch immer um die Sicherung von Macht und Einfluss. Anstatt sich auf Blutslinien zu berufen ist es heutzutage zur Normalität geworden, die eigene kulturelle Überlegenheit zu propagieren, die es vor dem Islam zu schützen gelte. Besonders die Emanzipation der Frau wird immer wieder als Referenz für deutsche Fortschrittlichkeit herangezogen, wenn es der Abgrenzung dient. Angefangen von Kopftuchdebatten über Homophobie-Zuschreibungen bis zu Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt. Anstatt Vergewaltigungen, sexualisierte Gewalt und Homophobie in Deutschland als gesamtgesellschaftliches Problem ernst zu nehmen und diesem wirklich etwas entgegen zu setzen, werden die Opfer verhöhnt, weil Sexismus kulturalisiert und für rassistische Politiken instrumentalisiert wird. So wird Sexismus in der Mehrheitsgesellschaft unter den Tisch gekehrt.

Während allwöchentlich organisierte Faschisten und Faschistinnen mit Bürgern und Bürgerinnen in den Straßen ihren Rassismus wieder salonfähig machen, die Neonaziorganisation „Der dritte Weg“ Anleitungen für Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte veröffentlicht, tagtäglich Unterkünfte mit Neonazi-Parolen beschmiert, angegriffen oder angezündet werden und sich mittlerweile sogar deutsche Neonazischläger verabreden, um MigrantInnen durch die Straßen zu jagen, echauffieren sich CSU, CDU und SPD über Muslime, übernehmen Forderungen der NPD und reihen sich damit ein in die rassistische Hetze.

Vom „NSU“ systematisch mit staatlicher Hilfe ermordet, von Neonazis verfolgt, von Pegida bis SPD verhöhnt, durch Integrationskurse kontrolliert und geknebelt und durch alltäglichen Rassismus, wie z.B. Herkunftsfragen, wird MigrantInnen tagtäglich vermittelt, dass sie eigentlich nicht ganz dazugehören sollen, oder zumindest Dankbarkeit zeigen sollten und nichts zu melden haben. Die Entwicklung einer eigenen deutsch- muslimischen, deutsch-migrantischen Zugehörigkeit, sichtbaren Öffentlichkeit und Lebensalltags wird immer wieder durch diese offiziellen binär gedachten Kategorien oder offene rechte Gewalt blockiert. Wenn schon kein homogener deutscher Volkskörper mehr herstellbar ist, so kann doch zumindest kulturelle, politische und ökonomische Macht gerechtfertigt und (wieder) hergestellt werden, indem Muslima mit Kopftuch nicht arbeiten dürfen, Vergewaltigungen und Kriminalität Muslimen zugeschrieben werden und ein öffentlich sichtbarer migrantischer Lebensalltag mit Zuschreibungen von Integrationsunwilligkeit oder Parallelgesellschaften kriminalisiert und diffamiert werden.

Wenn MigrantInnen von der Mehrheitsgesellschaft immer wieder vermittelt bekommen, dass sie entweder gar nicht erwünscht sind oder nur erwünscht sind, wenn sie sich anpassen, was in dieser kulturrassistischen Logik aber nicht möglich ist, da Kultur wie Biologie gedacht wird, wird es weniger verwunderlich, wenn pseudo-antiimperialistische Argumente eines radikalen Islam Fuß fassen können.  
Von unseren Gesprächspartnerinnen wurde immer wieder betont, dass es einen Zusammenhang zwischen anti-muslimischem und anti-arabischen Rassismus und Jihadismus gibt: Wenn nur die Wahl zwischen „muslimisch“ und „deutsch“ besteht, „deutsch-Sein“ aber eigentlich nicht zu erreichen ist bzw. fortwährend bedeutet, sich in die imperiale, ökonomische, kulturelle, politische Ordnung einzufügen und dadurch hierarchisiert zu werden; wenn gleichzeitig „muslimisch-Sein“ sowohl von islamischen Traditionalisten als auch von europäischen Akteuren in der öffentlich wahrnehmbaren Repräsentation nur bedeuten kann,  „Muslim“ nach Auffassung islamischer Traditionalisten zu sein, dann muss man sich nicht wundern, wenn Salafisten und andere fundamentalistische, islamische Kräfte durch Inszenierung als widerständig gegen europäische Unterdrückung an Einfluss gewinnen können.

Unsere GesprächspartnerInnen verdeutlichten dabei vor allem, dass sie kaum wahrnehmbar dagegen angehen können, da ihre Version des Islam als alternative From neben den beiden Seiten kein Gehör findet. Das bedeutet dass anti-muslimischer Rassismus dazu beiträgt, dass ein fundamentalistischer, politischer Islam an Einfluss gewinnt. Dies ist möglich durch die beschriebene post-koloniale Situation wie auch diskursive Zuschreibungen und die damit einhergehenden realen ökonomischen, politischen und sozialen Ausgrenzungen und Hierarchisierungen in Deutschland: vom Kopftuchverbot und Integrationsforderungen über restriktive Migrations- und Asylgesetze bis hin zu gewaltsamen Angriffen und Morden. Genau diesen Zusammenhang zwischen rassistischen Ausgrenzungserfahrungen und deutlich traditionalistischer, konservativer werdenden oder gar sich dem Jihadismus zuwendenden FreundInnen und Bekannten verdeutlichten uns unsere muslimischen und aus muslimischen Kontexten kommenden GesprächspartnerInnen immer wieder.

Hier müssen wir uns sicherlich weitergehender fragen, warum junge Muslima und Muslime sich dann dem Jihadismus zuwenden. Ergänzende Erklärungen liegen möglicherweise in dem Bezug auf Männlichkeit, was gerade für ausgegrenzte Männer attraktiv sein kann. Es kann auch an dem starken Rückbezug des „IS“ auf das Kalifat liegen, das im Zuge von Kolonialismus zerstört wurde und dadurch heute positiver Bezugpunkt ausmacht. Hier schafft es der „IS“, an alte Debatten anzuschließen und eine anti-imperiale Inszenierung für sich nutzbar zu machen.

Zudem müssen wir uns selbstkritisch fragen, warum auch wir keine gemeinsame Praxis mit migrantischen, muslimischen Jugendlichen haben und unsere anti-imperialen Deutungen und Antworten für diese Jugendlichen weniger attraktiv sind. Mit unserer Auseinandersetzung mit dem Thema „Islam und Feminismus“ und unseren viele Gesprächen mit Muslima und Muslimen und Personen aus muslimischen Kontexten starteten wir diesen ersten Versuch, diese Trennungen zu durchbrechen, um gemeinsam linke Antworten auf Imperialismus, Rassismus und Sexismus zu finden.

Das muss für uns heißen, endlich zu erkennen, dass auch eine radikale Linke in Deutschland diese rassistischen Trennungen durchbrechen muss, die am Islam und insbesondere der Frauenrolle im Islam verhandelt werden. D.h. einerseits die Aufspaltungen in „muslimisch“, „arabisch“, „migrantisch“ oder „deutsch“ zu durchbrechen, die nicht nur Identitätsverhandlungen sind, sondern mit einer ökonomischen, politischen und kulturellen Ordnung einhergehen. In diesem politischen Kampf gegen Sexismus und Rassismus müssen wir die historisch und gegenwärtig imperial geprägten politischen Kämpfe mit ihren AkteurInnen kennen. Diese finden derzeit (inter-)national einflussreich und öffentlich wahrnehmbar zwischen fundamentalistischer Islamauslegung und rassistischen, imperialen Akteuren statt. Daraus leitet sich für uns als politische Praxis ab, gemeinsam mit von jenen Politiken betroffenen Muslima und Muslimen und Personen aus muslimischen Kontexten diese herrschende Logik zu durchbrechen. Dieser Kampf ist ein gemeinsamer Kampf nicht nur gegen Imperialismus und Rassismus, sondern auch gegen Sexismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, der durch Auslagerung auf den Islam unsichtbar gemacht wird.

Die AkteurInnen, die nach unseren Kenntnisse eine Positionierung zwischen imperialistisch und rassistisch inszeniertem Feminismus, Sexismus und Jihadismus einnehmen und dadurch in dieser postkolonialen Ordnung überhaupt erst wirkmächtig sind, sind für uns muslimische Feministinnen auf der ganzen Welt. In Deutschland ist auf einer institutionellen Ebene der Liberal Islamische Bund (LIB) im Ruhrgebiet interessant, der sich seit 2010 gegen Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit richtet. Der Bund möchte in innerislamische Diskurse hinein wirken wie auch das mehrheitlich liberale Islamverständnis in Deutschland repräsentieren, das wenig Gehör findet.

Muslimischer Feminismus


„Muslimisch“ oder „Islam“ in Kombination mit “Feminismus“ wird die meisten Menschen im „Westen“ nicht nur seitens der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch seitens der Linken, verstören. Das Bild „der unterdrückten muslimischen Frau“ ist zu wirkmächtig, um sich vorstellen zu können, dass es nicht nur in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, sondern explizit auch von Muslima selbst, feministische Kämpfe gibt. Dies ist außerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaften kaum bekannt. In den mehr oder weniger symbolisch aufgeladenen politischen Debatten um „den Islam“ werden die unterschiedlichen Facetten von Islam-Interpretationen, politischen Einstellungen und alltäglichen Lebenspraxen nicht gehört oder repräsentiert.

In diesem Abschnitt möchten wir Prinzipien und Strömungen feministischer muslimischer Kämpfe vorstellen. Nicht nur, um sie überhaupt bekannt zu machen, sondern auch um die Spezifizität muslimischer feministischer Politiken vorzustellen, die sich nicht einfach so aus den Erfahrungen feministischer Kämpfe in Westeuropa oder den USA verstehen, geschweige denn erklären, lassen. Wir sollten verstehen, was emanzipatorische Muslima und Muslime selbst an bestimmten Ausprägungen des Islams kritisieren bzw. welche Rolle der Islam überhaupt in ihren Kämpfen spielt. Gerade also innerhalb der anti-muslimischen Diskurse und Debatten, die „den Islam“ als „rückständig“ und „frauenverachtend“ darstellen, interessieren uns die feministischen Kämpfe in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die meist der Religion selbst begründet sind.

Zwischen Orient und Okzident?
In Indonesien, dem Staat mit der größten muslimischen Mehrheitsgesellschaft der Welt, kämpfen Aktivistinnen von Rahima – Centre for Education and Information on Islam and Women’s Rights für ihre Rechte. In Malaysia arbeiten bewegte Muslima bei den Sisters in Islam (SIS) und erreichen damit hohe gesellschaftliche und mediale Aufmerksamkeit. In Deutschland organisieren sich liberale Muslima im ZIF, dem Zentrum für islamische Frauenforschung und Frauenförderung e.V. Und in internationalen Netzwerken sind muslimische Frauenverbände teils seit Jahrzehnten organisiert: Musawah (“Gleichheit”) – For Equality in the Muslim Family wurde 2009 als transnationales Netzwerk auf einem Treffen in Kuala Lumpur (Malaysia) von 250 Frauen aus über 50 Staaten gegründet. Women living under muslim law – WLUML ist seit 1984 ein internationales Solidaritätsnetzwerk aus einzelnen gläubigen oder säkularen Frauen oder ganzen Organisationen aus 70 Ländern.

Die meisten dieser Organisationen und Zusammenschlüsse werden von intellektuellen, akademischen Frauen getragen. Zugänge zu muslimischen feministischen Strömungen und ihre Umsetzungen sind also auch eine Klassenfrage. Auch die meisten unserer Gesprächspartneinnen kamen aus akademischen und/oder bildungsbürgerlichen Kontexten.

Selbstbewusste, politische Eigenbezeichnungen von „islamischem“ oder „muslimischem“ Feminismus entstanden in den 1990er Jahren durch Frauen, die damit einen feministischen Diskurs und eine Praxis anfingen zu bezeichnen, die sie innerhalb eines muslimischen Paradigmas artikulierten. Die Herleitung des muslimischen Feminismus erfolgt aus dem Qur‘an. Anfangs stellten viele Teile dieser Bewegung den Begriff „Feminismus“ wegen des Einflusses des Westens, der sich in dem Begriff widerspiegelt, für sich in Frage. Sie bevorzugten stattdessen den Begriff „weiblicher Reformismus“. Fatima Mernissi aus Marokko bezeichnete sich bspw.als säkulare Feministin.  
Seit den 1990er Jahren wird der Begriff „Feminismus“ immer mehr als Eigenbezeichnung von muslimischen bewegten Frauen gebraucht, z.B. von der Iranerin Ziba Mir-Hosseini oder der Türkin Nilufer Göle, von Teilen der Sisters in Islam (SIS) oder von südafrikanischen Exegetinnen (Koran-Auslegerinnen). In der iranischen Zeitschrift zanan wird er auch als Eigenbezeichnung gebraucht.
Die Auseinandersetzung mit einer „eigenen Identität“ vs. einer „westlich aufgedrückten“ spielt nicht nur für muslimische Feministinnen, sondern auch für ihre Gegner eine Rolle. „Muslimischer Feminismus“ wird nicht nur von Strömungen im „Westen“ in Frage gestellt. Viele Muslima, die sich gegen feministische Kämpfe im Islam stellen, sehen „Feminismus“ als Import aus dem Westen an. Der Islam sei ein abgeschlossenes Gebilde, das den Dynamiken von Erneuerung feindlich gegenüberstehe. Diese Haltung ist nicht weniger essentialistisch als eine westliche Sichtweise, die Feminismus als grundsätzlich distanziert von Religion versteht.

In muslimischen Mehrheitsgesellschaften müssen muslimische Feministinnen genauso gegen Widerstände aus konservativen Reihen ankämpfen, wie überall auf der Welt emanzipatorische Kräfte gegen ihre Gegner kämpfen müssen. Zahra Ali, eine muslimische Feministin, die in Frankreich aktiv ist, benennt drei gegnerische Strömungen: 1) Muslimische Traditionalisten. Diese stellen sich gegen Veränderungen dessen, was sie als ewig gültige Regeln betrachten. 2) Muslimische Fundamentalisten. Diese wollen eine Praxis zur Rückkehr einer „reinen“ shari’a. 3) Säkulare Fundamentalisten. Diese stellen in Abrede, dass religiöses Recht und religiöse Praxis gerecht sein können. Diese Strömung ist im „Westen“ die am weitesten verbreitete.  

Historische Entwicklungen
Im späten 19. Jahrhundert entwickelten Muslima erste feministische Ansätze innerhalb intellektueller muslimischer Reformbewegungen und als Teil antikolonialer Kämpfe. Damit entwickelte sich muslimische feministische Politik zur selben Zeit wie in Europa und den USA.  
Die damalige Reformbewegung stellte den übergeordneten Rahmen dar, denn reformerische DenkerInnen haben generelle Fragen nach Gleichberechtigungen auf Grundlage des ijtihad gestellt, was bedeutet, den Islam in seinem Kontext (neu) zu denken. Seit dieser historischen Bewegung wird der Koran mit einer kritischen Linse neu gelesen, vor allem auch mit Blick auf Geschlechterfragen. Wichtig wird hier eine Unterscheidung von fiqh und shari’a: fiqh bezeichnet die vier muslimischen Rechtsschulen, die von Menschen gemacht sind. Die shari’a hingegen sei von Gott bestimmt und stehe damit in seinen Inhalten nicht zur Diskussion. Die muslimischen Rechtswissenschaften verstehen die Reformer und die muslimischen Feministinnen im Speziellen in ihrem historisch-gesellschaftlichen Kontext und nicht als etwas „Gott-Gegebenes“.

Einen nächsten Einschnitt in den Bewegungen gibt es in den 1970er und 1980er Jahren. Im Zuge von Dekolonisierungen und weltweiten sozialen Bewegungen fordern auch Muslima in muslimischen Mehrheitsgesellschaften mehr Bildung für sich. Weitere relevante Veränderungen kommen in den 1990er und 2000er Jahren zum Tragen. Muslima und Muslimen schlägt der Rassismus spätestens seit dem 11. September 2001 stärker entgegen als zuvor. Der muslimische Feminismus entwickelt sich seit dieser Zeit zu einer internationalen Bewegung. In Europa entwickeln sich muslimische feministische Strömungen erst seit Anfang der 2000er Jahre. Diese internationale Bewegung ist weiterhin Teil eines muslimischen Reformdenkens, das grundsätzlich zu einer Rückkehr der Quellen (Qur‘an und Sunna) aufruft. Das Instrument bleibt das ijtihad. Die feministischen Bewegungen sind davon überzeugt, dass der Islam an sich geschlechtergerecht sei.  

Strömungen des muslimischen Feminismus
Uns sind nach zahlreicher Lektüre und vielen Gesprächen mit und Recherchen zu muslimischem Feminismus vier Strömungen bekannt: 1) Tafsir (Neulektüre der Quellen, also des Qur‘an und der Sunna); 2) Neuschreibung der Geschichte aus Frauenperspektive; 3) Revisionen der fiqh, also der islamischen Rechtsschulen und 4) internationaler Aktivismus.

Tafsir (Neulektüre der Quellen Koran und Sunna)
Unter Muslima und Muslimen gibt es generell drei Herangehensweisen an die Quellen (Qur‘an und Sunna): Da wäre die traditionell reformatorische. Diese Herangehensweise ist international gesehen die Mehrheitsposition unter den ulamas, also den religiösen Gelehrten. Sie geht davon aus, dass Männer und Frauen spirituell gleichberechtigt seien; die Biologie zwinge aber zu unterschiedlichen Rollen, die aber als gleichwertig tituliert werden. Die nächste Herangehensweise ist eine radikal reformatorische. Diese fordert, dass die Inhalte und Methoden der Sozialwissenschaften in die Rechtslehre und die Geschlechterfragen einfließen sollen. Es geht hier nicht mehr um Geschlechterrollen, sondern um Subjekte männlichen und weiblichen Geschlechts, die grundlegend gleichberechtigt sind. Diese Strömungen kritisieren die fiqh. Eine weitere Herangehensweise ist liberal reformatorisch: diese Strömung ist unter den muslimischen Feministinnen am weitesten verbreitet. Hier wird der Islam als Gesamtheit ethischer Prinzipien verstanden, der keine fiqh benötigt, da die Prinzipien auf subjektive Weise gelebt werden. Geschlechterbeziehungen werden als soziale Konstrukte verstanden und Hierarchien als durch ein patriarchales Religionssystem hervorgebracht.

Unter muslimischen FeministInnen, die generell dem liberal reformatorischen Ansatz zugerechnet werden können, gibt es wiederum drei Strömungen: Die erste konzentriert sich ausschließlich auf den Qur‘an. Die wohl bekannteste Vertreterin dieses Ansatzes ist die Afro-Amerikanerin Amina Wadud, die 2005 als erste Frau eine Freitagspredigt vor einer gemischtgeschlechtlichen Gemeinde gehalten hat, und zwar in New York. Damit hat sie für viel Aufsehen gesorgt und war von konservativen Muslimen starken Bedrohungen ausgesetzt. Die zweite Strömung überprüft die Formulierungen von shari’a-basierten Gesetzen. Diese Strömung wird von Aziza Al-Hibri aus dem Libanon oder Shaheen Sardar Ali aus Pakistan vertreten. Die dritte wendet sich einer Neubetrachtung der Hadithen zu, also den übermittelten Lebenspraktiken des Propheten Mohammads, wie es z.B. Fatima Mernissi aus Marokko praktizierte.

Was bedeutet eine „Neulektüre des Koran“? Muslimische Feministinnen betonen, dass grundsätzlich den beiden unterschiedlichen Darstellungsebenen des Qur‘ans Rechnung getragen werden müsse. Dies sind zum einen die Verse von universeller Tragweite, die universell ethische Werte beinhalten wie Gerechtigkeit, Gleichheit, menschliche Würde, Verpflichtung zum Wissen oder Vernunft. Diese Verse bilden die Mehrzahl aller Koran-Verse. Zum anderen sind dies Verse von konjunktureller Bedeutung: diese geben Antworten auf Bedürfnisse in einer bestimmten zeitlichen Epoche (z.B. zu Sklaverei, Konkubininnen, körperlichen Strafen). Eine wesentliche Problematik sei nach Ansicht vieler muslimischer Feministinnen, dass Männer diese spezifischen Verse zu universell gültigen erklärt haben und damit die beiden Arten der Verse nicht differenziert betrachten.

Muslimische Feministinnen haben aus eben solch einer differenzierten Sichtweise eine neue Perspektive als Lektüreraster für den Qur‘an und die Hadithen entworfen. Die pakistanisch-amerikanische Intellektuelle Asma Barlan legt dar, wie in den Versen von universeller Tragweite der Koran lehre, dass Männer und Frauen ein Ganzes bilden, dass also eine Parität der Geschlechter vorherrsche. Nicht die spezifische Natur des Geschlechts ist von Bedeutung, sondern die Qualität der moralischen Praxis. Asma erläutert, dass der Koran im Grunde keine Unterschiede oder Ähnlichkeiten der Geschlechter aufmache und dass das Geschlecht keine soziale Bedeutung im Sinne eines gender zugeschrieben bekomme.

In der Konsequenz dieser bestimmten Lesart sind die Distinktionsmerkmale der Menschen laut Qur‘an ethisch-moralisch und nicht geschlechtlich. Die Rolle und die Subjektivität des Menschen müsste demzufolge im Islam über das sittliche Handeln in Übereinstimmung mit den Unterweisungen des Qur‘ans definiert werden, nicht aber über die geschlechtliche Identität. Mit diesen Verständnisweisen des Qur‘ans entwickelte sich in den letzten 20 Jahren ein globales, feministisches, muslimisches Denken, in dem muslimische Prinzipien immer wieder auf ihren Grundsatz der Gerechtigkeit und Gleichheit befragt wird.  

Neuschreibung der Geschichte aus Frauenperspektive
Dieser Strömung geht es in erster Linie darum, Frauen durch kritische Textanalysen sichtbar zu machen. Es werden die Fragen gestellt, wer sich in der Vergangenheit in den Qur‘an-/Islam-Interpretationen, also in der „Sekundärliteratur“, auf wen bezogen hat. Vertreterinnen dieser Strömung arbeiten bspw. heraus, dass es Forderungen mit frauenorientiertem Charakter bereits zu Mohammads Zeiten gab: Aisha, seine letzte Ehefrau und Tochter des Khalifen Abu-Bakr, habe deutlich gegen den Chauvinismus von Männern protestiert. Umm Salama, eine vorherige Ehefrau von Mohammad, wünschte sich, dass sich die Offenbarungen, die Mohammad nach und nach exklusiv empfangen hat, auch auf Frauen beziehen würden, besonders in Hinblick auf den Lohn und die Anerkennung ihrer frommen Werke. Es sei überliefert, dass in den späteren Offenbarung Umm Salamas Wunsch erfüllt worden sei.

In der männer-dominierten Geschichtsschreibung des Islam zeigen muslimische Feministinnen auf, dass nicht nur der Qur‘an an sich geschlechtergerecht sei, sondern dass es auch in der gelebten Praxis darauf ankommt, wer in den Vordergrund geholt wird und über wen wie gesprochen und geschrieben wird.   

Revisionen des fiqh (islamische Rechtsschulen)

Aktivistinnen, die sich um Revisionen der islamischen Rechtsschulen bemühen, legen ihren Schwerpunkt auf die von Menschen gemachten Rechtsprechungen. Da diese in der Regel von Männern gemacht sind, liegt es nahe dass männerzentrierte Auslegungen auch die Männer bevorteilen. Eine neue Interpretation des Qur‘ans muss ihrer Ansicht nach die Basis sein für eine Reformierung des fiqh.
Einige Gelehrte, wie Aziza al-Hibri, beschäftigen sich mit dem historisch gewachsenen Korpus des fiqh. Die Auslegung von Qur‘an und Sunna waren über Jahrhunderte von Männern monopolisiert, die bereits von patriarchalischen Strukturen geprägt waren. Kecia Ali beschäftigt sich in ihren aktuellen Studien vornehmlich mit dem frühen islamischen Recht und der Sexualethik. Sie zeigt an der Aufnahme von Zusatzklauseln in den Ehevertrag zum Schutz der Rechte der Frau – eine Strategie, die von muslimischen Frauenrechterlinnen als Präventionsmaßnahme oft empfohlen wird – dass dies eine unzureichende Lösung sei. Es gehe vielmehr darum, die innere Logik, die dem klassischen Recht zugrunde liegt, in Frage zu stellen. Das bedeute nicht, dass fiqh an sich frauenfeindlich sei; es seien vielmehr die damaligen Zeitumstände gewesen, die diese Rechtslogik bedingt hätten. Bis heute wirkten Kernideen über Männlichkeit/Weiblichkeit wie über Sexualität und Macht, welche die Ehe im frühjuristischen Denken strukturiert haben, nach. Gefragt sei nach Ali eine grundlegende Neuformulierung der islamischen Sexualethik, welche den veränderten sozialen Bedingungen (Berufstätigkeit der Frau usw.) und koranischen Grundprinzipien Rechnung trage. Ein anderes Beispiel ist der Ehevertrag, der in erster Linie die Vereinbarung eines Brautpreises darstellt. Dies sei ähnlich dem Kauf einer Sklavin. Durch die Zahlung der Brautgabe meint der Mann ein Besitz- und Verfügungsrecht an der Frau zu erwerben, speziell ein alleiniges Verfügungsrecht über ihre Sexualität. Solcherlei islamische Rechtssprechungen gilt es nach dieser muslimisch-feministischen Strömung als patriarchal und historisch-kulturell geschaffen aufzudecken und zu bekämpfen.

Internationaler Aktivismus
Wie oben bereits angerissen, gibt es verschiedene internationale Zusammenschlüsse von muslimisch-feministisch arbeitenden Aktivistinnen und Organisationen. Diese Initiativen beschäftigen sich meist mit der Forderung nach einer Reformulierung des Personenstandrechts, d.h. dem Recht, das sich mit Heirat, Scheidung, Unterhalt, Erbfolge, Adoption etc. beschäftigt. Hier geht es um Frauen und ihre Rechte im Islam. Die Mehrheit der Aktivistinnen setzt sich aus einer Elite von weiblichen Gelehrten zusammen, die die islamischen Wissenschaften auch selbst beherrschen. Auf Grund einer Vielzahl an akademischen Arbeiten und internationalen Konferenzen dieser internationalen Bewegung ist die Sprache ihrer Politik meist Englisch, nicht Arabisch.

Raise your voice!
Durch die Auseinandersetzung mit Inhalten und Praxen muslimisch-feministischer Kämpfe wollen wir ein Stückweit mit orientalistischen und rassistischen Herangehensweisen brechen. Das bedeutet dass es uns nicht darum geht, aus einer binären Haltung heraus Fragen zu beantworten, die sich aus unserem „westlichen“ feministischen Denken stellen, sondern in den Raum muslimischer Feministinnen zu treten und zu sehen, wie sie Gleichberechtigung denken und woraus sie dies begründen – und zwar in Begriffen und Problemfeldern, die ihre eigenen sind. Es geht uns nicht darum aufzuzeigen, wie sich Muslima und/oder das islamische Denken zu Fragen positionieren, die in feministischen Debatten gestellt werden. Es geht darum zu zeigen, auf welche Weise innerhalb eines muslimisch-religiösen Rahmens und in Kontexten, in denen der Islam ein wesentlicher Bezugspunkt ist, Reflexion und Engagement um Geschlechtergerechtigkeit entwickelt werden.

Muslimische Feministinnen sind in ihren Ausrichtungen und Herangehensweisen genauso divers wie alle Kämpfe auf der Welt. Es eint sie ihr religiöser Glaube, der auch wesentliche Grundlage für ihre feministischen Kämpfe darstellt. Bisher ist die intellektuelle Ausrichtung der unterschiedlichen Strömungen in den unterschiedlichen Ländern und Regionen für uns auffällig. Weniger elitäre Strömungen sind uns genauso wenig begegnet wie zusammengeführte Kämpfe zwischen Muslima und Nicht-Muslima. Wir bleiben auf der Suche nach weiteren theoretischen und praktischen Herangehensweisen