Nachgelegt: A woman's voice is not an old man's revolution!

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Nachgelegt: A woman's voice is not an old man's revolution!

Was sagten Marx, Engels und Lenin über "die Religion"? Ein Teil der radikalen Linken interessiert sich in der Regel nicht dafür - scheint dies aber als identitätsstiftenden Teil ihres "radikalen Bewusstseins" auf einmal sehr in den Vordergrund zu stellen, sobald das Stichwort "Islam" fällt. Wir wollen hiermit ein Statement nachlegen. Im Mai 2016 führten wir in Göttingen das Projekt "A woman's voice is a revolution!" Zu anti-muslimischem Rassismus und muslimischen Feminismus" durch und stießen damit auf große Resonanz im bundesdeutschen Antifa- und iL-Spektrum. Es folgten bis Dezember 2016 Veranstaltungseinladungen nach Hamburg, Herford, Berlin, Braunschweig, Lübeck und Köln und zu Beiträgen in der feministischen Zeitschrift "Krampfader", im Antifaschistischen Infoblatt und im "Neuen Deutschland". Das Interesse ist groß und führt in den meisten Städten zu sehr begeisterten, anerkennenden und solidarischen Rückmeldungen und viele der entsprechenden Gruppen wollen an die Erfahrungen unseres Projekts anknüpfen. In manchen Städten oder Spektren allerdings erscheint die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Themen sehr einseitig und nach innen gerichtet: sich selbst und anderen gegenüber der eigenen Radikalität über die eigene Religionskritik zu versichern. Das Verhältnis der radikalen Linken gegenüber Religion ist auch für uns eine wichtige Auseinandersetzung und hat im Zuge unseres Projekts regelmäßig zu heftigen Diskussionen geführt. Aber diese Selbstvergewisserung geht unserer Meinung am Wesentlichen vorbei: nämlich an der Weiterentwicklung einer antirassistischen und feministischen Praxis. Dies wird uns nach den unterschiedlichen Veranstaltungs-Erfahrungen in manchen anderen Städten immer deutlicher.  

Marx, Engels und Lenin:  wer weiß Bescheid?

"Religion ist Opium des Volkes" oder "Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." Diese Zitate von Marx sind in der radikalen Linken breit bekannt und werden in ihren Versatzstücken gerne vor sich hergetragen. Aber was war der Kontext, was waren die Argumente dahinter? In unseren Veranstaltungen wurde teilweise mit Bezug auf Marx so darüber diskutiert, als wäre ein Kampf gegen Religion ungeheuer wichtig gewesen und als müsste dies als unumstößliche Prämisse bis heute so gelten. Marx, Engels und später Lenin, der deren Grundlagen aufgriff, hatten zweifelsohne der Religion gegenüber eine rundweg ablehnende Haltung. Aber es ging ihnen nie darum, Religion zu bekämpfen oder einem Kampf gegen Religion überhaupt eine wichtige Rolle zukommen zu lassen. Dieses Missverständnis korrigierte Engels bereits in der Einleitung zu "Der Bürgerkrieg in Frankreich" und später auch Lenin 1909 im "Proletari". Engels verurteilte im "Anti-Dühring" 1877 die Idee, in einer sozialistischen Gesellschaft Religion zu verbieten. Denn damit würde man nur "den Bismarck überbismarcken" was bedeute, Bismarcks Kampf gegen den Katholizismus zu wiederholen - und die Religion im Endeffekt zu stärken, indem sie ins Zentrum von Abgrenzungskämpfen innerhalb der Arbeiterklasse gerückt wird, die doch eigentlich politisch gegen die Herrschenden kämp-fen müsse. Wer die Bekämpfung von Religion in den Mittelpunkt rücke, rutsche in einen oberflächlichen Antiklerikalismus ab.
Stattdessen müssen der eigenen Bewegung gegenüber Zugeständnisse an Religion gemacht werden, stellt Lenin in "Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion" klar. Diese Zugeständnisse seien keineswegs als taktisches Verhältnis der Arbeiter­Innenklasse gegenüber zu verstehen -  es gehe also nicht darum, sie nicht abzuschrecken oder ähnliches, sondern stelle ein konsequentes Ausführen des Marxismus dar. Es gehe nicht darum, Religion zu bekämpfen. Sich in "die Abenteuer eines politischen Krieges gegen die Religion zu stürzen" betrachteten Marx, Engels und Lenin als geradezu fatal. Es ginge hingegen darum einen politischen Kampf zu führen, der die Wichtigkeit von Religion in einer sozialistischen Gesellschaft obsolet werden lässt. Religion abzulehnen bedeutet nach Marx und Engels insofern zu verstehen, warum sie materialistisch gesehen wichtig für Menschen sei um dadurch auch zu verstehen, wie sie zu bekämpfen sei.  
Marx setzte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" demnach auch intensiv mit Religion auseinander. Sein Bezugspunkt ist der Junghegelianer Ludwig Feuerbach. Diesem ging es nicht um Wahrheit oder Unwahrheit von religiösen Ideen und Praktiken, sondern verstand sie als Projektionen der Menschen und ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Mit dieser Prämisse ist Religion für Marx als "der Seufzer der bedrängten Kreatur, [als] das Gemüt einer herzlosen Welt" zu verstehen; als der Trost, der das Leben der Unterdrückten erträglich mache. Somit wirke Religion als das viel zitierte "Opium des Volkes", da sie die unmenschlichen gesellschaftlichen Verhältnisse aushalten lässt, indem sie auf ein Leben jenseits von Mangel und Unterdrückung vertröstet. Kritik an Religion zu üben heißt demnach für Marx, die gesellschaftspolitischen Bedingungen zu benennen und zu kritisieren, die Religiosität hervorbringen - und damit die Funktion von Religion in den Blick zu nehmen.   
Lenin schreibt in "Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion," einen Kampf gegen Religion vor sich herzutragen bedeute nicht mehr als "oberflächliche und ideologische Propaganda" zu betreiben. Auch er betont, dass die Wurzeln für einen religiösen Glauben bekämpft werden müssen, nämlich Kriege und Ängste vor dem Kapitalismus. Damit ordnet er "atheistische Propaganda" ganz klar dem Kampf der ArbeiterInnen gegen Ausbeutung unter. Alle, die das nicht verstehen, "haben die Marxsche Dialektik ganz und gar nicht verstanden," schreibt er. Er kritisiert sogar alle ArbeiterInnen, die religiöse Organisationen bekämpfen wollen, denn damit spalten sich die ArbeiterInnen selbst in ChristInnen und AtheistInnen. Atheistische Propaganda werde dadurch geradezu schädlich. Und weiter: Selbstverständlich können ChristInnen Teil der Bewegung werden, solange sie SozialistInnen seien.
Lenins Aussage "Ein Marxist (...) darf, [wenn es um Religion geht], nicht in das abstrakte, phrasenhafte, in Wirklichkeit hohle "Revoluzzertum" verfallen," so wie er es in "Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion" schreibt, können wir uns nur anschließen. Und kommen damit zurück in die Gegenwart und zu unseren Erfahrungen mit dem Feedback auf unsere Veranstaltungen zu muslimischem Feminismus und anti-muslimischem Rassismus.

Marx-Lesen & politische Praxis zusammenbringen?

Auch wir haben die Klassiker der radikalen Linken gelesen. Aber wir ziehen andere Schlüsse daraus als die Mehrheit derer, die Marx in den Diskussionen bei unseren Veranstaltungen vor sich hertragen. Diese Art von Diskussionen über Religionskritik erscheint uns in erster Linie identitär. Es wird sich vor allem gegenseitig verdeutlicht, wer denn nun "Recht" habe auf Grundlage von Marx-Zitationen. Es sind dabei vor allem Männer, die uns das Gefühl geben dass sie am liebsten präsentieren wollen, dass und wie gut sie sich eigentlich auskennen – anstatt sich wirklich in das Thema reinzudenken und -zulesen. Sie entziehen sich der Diskussion, indem sie mit ihren Marx-Zitaten Autorität über Andere herstellen.  
Diese Diskussionen sind relativ uninteressant für uns, denn dadurch bleibt alles beim Alten. Die geführten Diskussionen erscheinen auch uns als "abstrakt, phrasenhaft" und ein wenig wie "hohles Revoluzzertum": Teile des Antifa-Spektrums erzählen anderen Teilen des Anti-Spektrums, wie gut sie Marx zitieren können. Das klingt sehr polemisch, ist aber Ausdruck davon, wie sehr sich diese Szenen wiederholen und daraus weder etwas für die Praxis folgt noch inhaltliche Argumente weiterentwickelt werden. Unser Anliegen ist es, unsere politische Praxis zu verändern. Das heißt dass hier zwei unterschiedliche Ebenen aufeinandertreffen und die Diskussionen aneinander vorbeilaufen.  
Nach den Erfahrungen mit dem sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), in denen deutlich wurde, dass migrantische communities und deutsche Linke (fast) nichts miteinander zu tun haben, meinen wir es ernst wenn wir sagen: "Wir müssen viel mehr werden!". Eine wesentliche Erkenntnis nach Bekanntwerden des NSU war doch, dass wir viel stärker mit migrantischen communities zusammenarbeiten müssen und die Felder Antifaschismus und Antirassismus vielmehr miteinander verbinden müssen. Den betroffenen MigrantInnen  war sehr schnell klar, dass es sich um organisierte Neonazis handeln muss, die in ihren Umfeldern rassistische Morde verübten, während wir weißen, deutschen Linken diese Morde entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder nicht weiter hinterfragt haben. Wir müssen eine viel breiter und besser aufgestellte antifaschistische Bewegung werden, wenn wir Neonazis, Pegida, AfD und Co bekämpfen wollen. Solange wir in unserer Szene verhaftet bleiben, nach innen gerichtet Politik machen und keine Kompromisse einzugehen bereit sind, werden wir nur äußerst wenig an den gesellschaftlichen Verhältnissen verändern können.  
Innerhalb der rassistischen Diskurse, die in unserer Gesellschaft in erster Linie anti-muslimisch aufgeladen sind, suchen wir danach, wer innerhalb dessen eine Gegenmacht darstellt. Deshalb beziehen wir uns auf muslimische Feministinnen und andere liberale Muslima und Muslime und genauso auf MigrantInnen, die aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften kommen, aber nicht zwangsläufig selbst MuslimInnen sein müssen - wir wollen gemeinsam agieren. Unser Hauptausgangspunkt ist also der anti-muslimische Rassismus. Bei diesem Herrschaftsverhältnis geht es aber nicht unbedingt um Religion. Es geht nicht nur um Musli-ma/e, sondern genauso um diejenigen, denen muslimisch-Sein zugeschrieben wird. Deshalb machen wir keine Trennung zwischen einem Bezug auf oder einer Zusammenarbeit mit säkularen MigrantInnen vs. progressiven MuslimInnen.  
Das ist uns besonders mit Blick auf die Diskussionen zur linken Religionskritik wichtig. Der Tenor dieser Kritik lautet an manchen Stellen, dass wir als radikale Linke keine positiven Bezüge zu Religion und damit auf Muslima/e ziehen könnten und uns im Gegenteil in Marxscher Tradition ganz klar davon abgrenzen müssten und uns demnach auf säkulare MigrantInnen beziehen müssten. Aber, so haben wir oben aufgezeigt, wird dadurch erstens deutlich, wie Marx, Engels und Lenin missverstanden werden und zweitens unser positiver Bezug auf progressive Muslima und Muslime nicht pauschal als "Verrat" von "linker Tradition", nämlich der Religionskritik, gewertet werden kann. Dass es diese "Tradition" so gar nicht gibt und anarchistische ChristInnen, linke JüdInnen oder marxistische Muslima/e immer Teil von sozialistischen Bewegungen und Theoriebildungen waren, ist dabei noch ein ganz anderes Thema.
Dass wir "viel mehr" werden, funktioniert unserer Erfahrung nach nur mit einem authentischen Moment des gegenseitigen Interesses und nicht darüber, dass wir uns strategisch und theoretisch überlegen, wir "müssten mal" auf MuslimInnen zugehen. Unser erster Schritt zur Weiterentwicklung unserer anti-rassistischen und feministischen Praxis waren Gespräche, die wir 2015 mit zehn progressiven, oft explizit linken, Muslima/en und mit säkularen MigrantInnen aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften in Göttingen geführt haben. Wir hatten aufrichtiges Interesse daran, was für sie wichtig ist. Unser nächster Schritt war es, migrantische Gemeinden und communities in das Göttinger Bündnis gegen Rechts (BgR) zu holen. Die Perspektiven im BgR sind doch sehr einheitlich weiß und deutsch. Wenn wir lokal die Neonazis bekämpfen wollen, dann liegt uns besonders auch an den Perspektiven von MigrantInnen und ihren Erfahrungen. Das schließt die muslimischen Gemeinden explizit mit ein, wenn wir gerade aktiv auf die verschiedenen Institutionen, Initiativen und communities mit diesem Anliegen zugehen. Da machen wir keine Trennung, denn es geht schließlich "um die Sache": um eine Stärkung des Kampfes gegen Rechts. Unsere ersten Gespräche darüber führten wir mit sechs Personen aus linken türkischen und êzidischen Kulturvereinen und dem Göttinger Integrationsrat. Wir versuchen auch erneut, mit progressiven Mitgliedern von Moschee-Gemeinden in Kontakt zu kommen. Wir wissen von linken Familien auch in konservativen Gemeinden. Wir finden uns nun allerdings in einem Spannungsfeld zwischen muslimischen progressiven Einzelpersonen oder Zusammenhängen und konservativen bis rechten muslimischen Institutionen wider. Das birgt nicht nur Zündstoff für die Diskussionen in unserer Gruppe, sondern auch mit denjenigen migrantischen Gruppen, mit denen wir bisher ein genossenschaftliches Verhältnis haben. Den politischen Konflikten sowohl innerhalb und zwischen manchen migrantischen Gruppen sowie zwischen uns und konservativen bis rechten MigrantInnen, die uns bei diesem nächsten Schritt begleiten, sind uns sehr bewusst und diskutieren wir gemeinsam mit den Menschen aus den communities. Dieser Weg der Kontaktaufnahmen, mit dem wir mit migrantischen communities über das Göttinger BgR sprechen wollten, ließ uns schnell an eine Grenze stoßen, da er über institutionelle Kanäle verlief und diese Institutionen teilweise konservativ oder reaktionär waren. Deshalb orientieren wir uns zur Zeit wieder zurück zu Gesprächsaufnahmen mit Menschen, von denen wir wissen dass wir einen gemeinsamen politischen Zugang haben und zu denen wir bereits ein persönliches Verhältnis haben.
Unsere Erfahrung ist, dass wir die damaligen Gespräche von 2015 überhaupt nur so produktiv und vertrauensvoll führen können und konnten und über einen längeren Zeitraum mit Musli-ma/en zusammenkommen und -arbeiten, weil wir sie mit ihrem Glauben ernst nehmen. Das gilt individuell in Bezug auf unsere GesprächspartnerInnen und bedeutet nicht, das religiöse Gebäude "Islam", "Katholizismus" etc. zwangsläufig ernst zu nehmen. An dieser Stelle möchten wir noch einmal Karl Marx ins Gedächtnis holen: es ist wichtig einen Unterschied zu machen zwischen der gesellschaftspolitischen Funktion von Religion und der Bedeutung des Glaubens für Einzelne. Wir gehen grundsätzlich wertschätzend mit unseren BündnispartnerInnen und GenossInnen um. Würden wir von vornherein sagen, die Religion interessiere uns nicht und spiele keine Rolle und wir müssen uns damit nicht beschäftigen, wenn andere gläubig sind, dann ignorieren wir einen wesentlichen Teil ihrer Identität, der ihnen wichtig ist. Um deutlich zu machen, dass wir unsere GesprächspartnerInnen ernst nehmen und uns wirklich für sie interessieren, war es wichtig, offen und neugierig mit ihrem Glauben umzugehen und uns damit zu beschäftigen. Mit diesen positiven Erfahrungen haben wir ein Problem damit, wenn wir als allererstes den religiösen Glauben unserer GesprächspartnerInnen kritisieren sollen, bevor wir überhaupt in ein ernsthaftes Gespräch eintreten, so wie es manche Kritiker von uns in Veranstaltungen gefordert haben. Nach unseren Erfahrungen ist dies kontraproduktiv für die Zusammenarbeit. Andere AktivistInnen, also die KritikerInnen selbst, können diesen Weg gerne gehen und dann tauschen wir uns gerne über unsere unterschiedlichen Erfahrungen aus. Solange aber nur solche Forderungen an uns herangetragen werden und keine eigenen Schritte gegangen werden, die dann z.B. die unmittelbare Religionskritik an gläubige Linke einschließt, dann langweilen uns solche identitären Haltungen.  
An dieser Stelle ist uns auch wichtig zu betonen, wie wichtig es ist, sich der eigenen Ausschlussmechanismen gegenüber MigrantInnen und/oder MuslimInnen in der eigenen Szene bewusst zu machen. Es geht hierbei auch um die Frage der Deutungshoheit darüber, wer eigentlich definiert, was Links(radikal)-Sein ausmacht. Ist es nicht anmaßend, als weiße deutsche Linke definieren und einteilen zu wollen, wem das Links-Sein zugestanden werden "darf"? Aussprüche wie: "Religion kann per se nichts emanzipatorisches sein" oder "Religionskritik ist ein unumstößliches linkes Prinzip", die uns teilweise in unseren Veranstaltungen begegnen, sind, wie deutlich geworden sein sollte, nicht einfach nur falsch, sondern sind auch weit davon entfernt, eine Zusammenarbeit mit Linken, die nicht genauso homogen weiß, deutsch, Mittelklasse und atheistisch sind wie man selbst, überhaupt zu ermöglichen.

Wir und die Religion

Darüber hinaus erscheint es arrogant wenn wir so tun, als hätten wir als radikale Linke immer alles richtig gemacht und wüssten, was richtig sei zu tun und zu denken. Wir selber haben als Bewegung zwar aber auf wesentliche Fragen im Leben gute theo­retische, aber nur wenige praktische Antworten zu geben. Das zeigt sich u.a. darin, dass die meisten GenossInnen, die in unseren Strukturen organisiert sind/waren, sich ab einem Alter von 30 Jahren dann doch in einem bürgerlichen Eheleben einrichten und sich nicht nur aus politischen Zusammenhängen zurückziehen, sondern auch ihre politischen Einstellungen in einem relativ kurzen Zeitraum komplett über Bord werfen können. In solch einer Phase, in der nach Orientierung und Sinn gesucht wird, können wir selber nur wenig Praktisches anbieten zu Fragen wie: Wie gestalte ich soziales Zusammenleben? Wie gehen wir mit Konflikten um? Was ist ein Kollektiv? Oder auch: was kommt nach dem Tod? Darauf geben Religionen Antworten. Die können wir zwar schlecht finden, aber wir nehmen es ernst und kritisieren uns als radikale Linke vor allem dahingehend selbst, dass wir solche elementaren Fragen nicht behandeln, geschweige denn überzeugend beantworten können. Gerade mit Bezug auf Lenin und die sozialistische Revolution in der Sowjetunion können wir als radikale Linke zwar eine "solidarische Gesellschaft" anbieten, wenn es um konkrete Fragen des Zusammenlebens geht. Wir können eine solidarische Gesellschaft im Hier und Jetzt auch als Antwort auf eine religiöse Suche anbieten. Diese Vision einer solidarischen Gesellschaft gibt uns ganz konkret im Alltag aber wenig. Wir können uns selbst und anderen keine sicheren Strukturen anbieten, die macht- und herrschaftsfrei funktionieren. Frauen und People of Color (Menschen mit Rassismus-Erfahrungen) können davon ganze Arien singen.  
Und selbst wenn wir es im Kleinen - in manchen Hausprojekten, Kommunen etc. - doch schaffen dies mehr oder weniger zufriedenstallend umzusetzen, dann bleibt doch das Problem, dass unsere Angebote mit Blick auf die Gesamtgesellschaft marginalisiert sind. Im Gegensatz dazu durchziehen die Angebote, die Religionen anbieten, unsere Gesellschaft denn sie machen einen ganz wesentlichen Teil des Wertesystems aus - das für Alle gilt und nicht nur für explizit religiöse Menschen. Gerade in Zeiten von kapitalistischen "Krisen", einer auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich etc. werden Bezüge auf ein jahrtausendealtes Wertesystem sowohl von Eliten, aber auch von Betroffenen selbst wieder stärker. Insofern interessiert uns an Religion, was daran herrschaftsstabilisierend wirken kann. Wenn Religion ganz konkret dafür herangezogen wird, um Elemente daraus konservativ auszulegen und gegen Schwächere zu wenden. Oder wenn auf einer allgemeineren Ebene Menschen aufs Jenseits verwiesen werden und ihnen damit ein klägliches Leben im Diesseits erträglich gemacht werden soll. Dann stellt Religion ein Machtinstrument dar und wird von uns kategorisch abgelehnt. Wir können uns nur auf uns selbst verlassen und dafür übernehmen wir die Verantwortung.

Auseinandersetzung mit Islam, wenn es  um Rassismus geht?

Diese Schritte die wir gehen, führen uns zu einem anderen Punkt: wie notwendig ist es, sich in einer Praxis, die gegen anti-muslimischen Rassismus vorgehen will, mit "dem Islam"- wohlgemerkt in seiner gesellschaftlichen Einbettung - auseinanderzusetzen? Diese Frage wurde uns auch in unseren Veranstaltungen gestellt. Wir wurden im Zuge unserer Veranstaltungen in Göttingen von einem linken Man of Colour, dem muslimisch-Sein zugeschrieben wird, darauf aufmerksam gemacht, dass wir die Auseinandersetzung mit dem Islam gerade nicht brauchen, wenn es uns um anti-muslimischen Rassismus gehe. Er ziehe es vor, sich mit der Struktur auseinanderzusetzen, die die Religion als diskriminierende Funktion im anti-muslimischen Rassismus erst erzeuge. Dass er als Kind als "Türke" (mit abwertendem Unterton) oder "Kanake" bezeichnet wurde und heute als "Muslim" (mit demselben abwerten Unterton), zeige, dass der Islam bloß als ein symbolischer Punkt im rassistischen Diskurs herangezogen wird, es aber nicht um "den Islam" an sich gehe. Das ist auch für uns nachvollziehbar. Allerdings stoßen wir unweigerlich auf "den Islam", auch wenn es im anti-muslimischen Rassismus primär um den Rassismus geht: nämlich durch unseren Bezug auf muslimische Feministinnen, den wir als eine erste praktische Antwort auf diese rassistischen Diskurse ansehen. Darüber hinaus ist für uns die Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit Prinzipien des Islam - mit  seinen gesellschaftspolitischen Wechselwirkungen zu Imperialismus und Kolonialismus, Kriegen und Christentum, globaler Ungleichheit und Herrschaft - aus unserer nicht-muslimischen Perspektive wichtig um zu verstehen, welche Perspektive Muslima/e auf bestimmte gesellschaftliche Fragen und Kategorien haben. Denn so können wir eine Ahnung davon bekommen, wo Konzepte und Ideen und damit verwobene gesellschaftspolitische Bedingungen und Ausgestaltungen differieren und wo wir eigentlich aneinander vorbei reden. Was meinen Muslima und damit, wenn sie von "Religion", "Individuum" etc. sprechen? Während christlich sozialisierte, weiße Deutsche bei "Religion" eher an einen Glauben denken, der stark institutionalisiert ist, sagte uns eine linke Muslima in derselben Veranstaltung in Göttingen, dass sie für sich den Religionsbegriff ablehne, da er mit diesem Impetus durch und durch eurozentrisch sei. Zudem betrachten wir im christlichen Westeuropa "Religion" bzw. das "Heilige" als Konsequenz aus der Aufklärung als eine eigene, abgeschlossene Sphäre, die von dem "Profanen", dem irdischen Leben, abgekoppelt sei. In anderen Kontexten werden hingegen alle denkbaren Sphären wie die der Ahnen, der Geister, der Götter und der Menschen im Hier und Jetzt als miteinander verwoben angesehen und die Kommunikation zwischen diesen Sphären gerade forciert. Oder: Ist es wirklich so, wie medial transportiert, dass fundamentalistische Muslime die "westliche Demokratie" angreifen wollen oder geht es ihnen eigentlich um etwas ganz anderes (z.B. um einen Konflikt zwischen "dekadent" vs. "moralisch richtig" anstatt zwischen "Demokratie vs. Barbarei"?). Dies führt uns wieder zur linken Religionskritik: Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist auch relevant für eine Einschätzung darüber, ob eine "allgemeine Religionskritik", die für alle Religionen gelte, überhaupt legitim ist. Kann eine Religionskritik, die durch Marx im Zusammenhang mit Kapitalismus und Aufklärung entstanden ist und sich gegen das Christentum gerichtet hat, auf den Islam übertragen werden? Um über diese Übertragbarkeit Aussagen treffen zu können, bedarf es tatsächlich der Idee der Unterschiedlichkeit - oder aber der Vergleichbarkeit - der Konzepte und Kategorien in muslimischen und in christlich-geprägten Gesellschaften. Dafür werden dann auch die Auseinandersetzungen mit "dem Islam" wichtig.  
Auch wenn wir uns historische, aktuelle und konzeptionelle Aspekte "des Islams" angeeignet haben und immer noch aneignen, heißt das nicht, dass uns zusteht, eine allgemeine Religionskritik am Islam zu formulieren, so wie wir sie am Christentum formulieren können. Wir möchten nicht bewerten, was wir am Islam oder am Christentum besser oder schlechter finden. Erstens übersteigt es selbstverständlich weiterhin unsere Kenntnisse, "dem Islam" einer Religionskritik zu unterziehen. Zweitens kommt es auf die eigene Sprechposition an. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob wir als mehrheitlich weiße Deutsche, die in einer christlich geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind, das Christentum kritisieren, oder ob wir aus derselben Position heraus den Islam kritisieren und uns damit in eine eurozentristische Sprechposition setzen, die sich in weltpolitischen Diskursen als höherwertiger ansieht und damit Hierarchisierungen reproduzieren. Aus dieser Sprechposition heraus interessiert uns viel eher, die eigenen historischen Erfahrungen und eigenen Rassismen zu verstehen, als geschlossene Religionskritiken formulieren zu können. Womit wir linke Religionskritik wie auch konservative und hie­rarchisierende Elemente im Islam ganz sicher nicht relativieren wollen.
Es sollte deutlich geworden sein: es geht uns nicht um das "richtig" oder "falsch", wenn es um Religion geht, sondern um einen erweiterten Blick auf unsere politische Praxis, um neue Wege und Einschlüsse. Das schließt eine starke Offenheit, Kompromissbereitschaft, Neugierde und das Ablegen von eigenen arroganten und identitären (männlichen) Selbstvergewisserungen ein. Wenn Flüchtlingsheime brennen, Neonazis aufmarschieren und die AfD in den Parlamenten sitzt, wenn Flüchtende in Sonderlager gebracht werden und mehrere tausend Menschen, die auf der Flucht sind, jährlich im Mittelmeer ertrinken, sollten wir aus unserem Sumpf auftauchen und den Kampf dagegen mit Allen führen. Das Wiederkäuen von Religionskritik sollte dabei eigentlich keine Rolle spielen. Der Kampf geht weiter!